Bewusstsein 1 (Takimo 9)

Als reflektierende Menschen sind wir überzeugt, mehr zu sein als nur unser Körper. Dieses „Mehr“ nennen wir Geist, Ich, Selbst, Seele oder Bewusstsein. Das Nachdenken über den Zusammenhang von Körper und Geist wird als Körper-Geist-Problem bezeichnet und kann bis in die Antike zurückverfolgt werden. Manchmal wird auch vom Leib-Seele-Problem gesprochen.

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Nicolas Camille Flammarion (1842-1925) war ein französischer Astronom und Autor populärwissenschaftlicher Schriften. Der obige Holzstich Flammarions, der in dem 1888 erschienenen Band „L’atmosphère météorologie populaire“ auf Seite 163 veröffentlicht wurde, zeigt einen auf der Erdscheibe knieenden Beobachter, der aus der Himmelssphäre heraus schaut und staunend das dahinter liegende Universum betrachtet. Bis zum Jahre 1974 wurde die Abbildung fälschlicherweise als mittelalterlicher Holzschnitt und Beweis des rückständigen Weltbildes dieser Zeit angesehen. Tatsächlich hatte Flammarion nur die Sehnsucht des Menschen nach der Erforschung unbekannter Welten darstellen wollen.

Der Zugang zum Körper-Geist-Problem erfolgte in den vergangenen Jahrhunderten durch zwei unterschiedliche Haupt-Denkrichtungen: Monismus und Dualismus.

Der Monismus kennt nur eine einzige absolute Substanz. Geist und Materie werden als verschiedene Aspekte dieser Substanz angesehen. Dabei lässt sich der Monismus in drei Strömungen unterteilen:
1. Materialismus (Physikalismus): Alles ist Materie. Geist (Bewusstsein) ist nur ein sekundäres Phänomen.
2. Idealismus: Alles ist Geist, und nur geistige Vorgänge sind real.
3. Neutraler Monismus: Geist und Materie sind Erscheinungsformen ein und derselben neutralen Substanz, die ihrerseits weder Materie noch Geist ist (wurde durch Baruch Spinoza, den berühmten niederländischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, eingeführt).

Der Dualismus geht von zwei unabhängigen Substanzen aus, die sich gegenüber stehen. Zum einen die körperlich ausgedehnte Substanz und zum andern die geistige, nichtmaterielle Substanz (ein wichtiger Vertreter des Dualismus war z.B. René Descartes).

Über das Körper-Geist-Problem dachte natürlich auch schon das antike Griechenland nach. Aristoteles formulierte z.B. einen Hylemorphismus. Danach verhalten sich Leib und Seele zueinander wie Stoff (hyle=Materie) und Form (morphe/eidos=Gestalt/Idee). Stoff ist reine Möglichkeit (geformt zu werden) und Form Verwirklichung/Wirklichkeit des Stoffes.
Der Begriff der materia prima (erste Materie), auch Urstoff genannt, leitet sich daraus her. Die materia prima des Aristoteles ist reine Potenz, d.h. ein kategorial völlig unbestimmtes Seiendes. Vergleicht man den Begriff der materia prima mit dem Begriff des Vakuums heutiger Quantenfeldtheorien, so muss eine verblüffende Ähnlichkeit festgestellt werden.

Mit dem Körper-Geist-Problem hat sich durch die Jahrhunderte hauptsächlich die Philosophie beschäftigt. Durch die zunehmenden Erfolge der Neurobiologie beginnt sich in jüngerer Zeit auch die Gehirnforschung für den Zusammenhang zwischen Materie und Geist zu interessieren. Man spricht jetzt nicht mehr von Körper-Geist-Problem, sondern lieber vom „Rätsel des Bewusstseins“. Bewusstsein ist ein Begriff der neuzeitlichen Philosophie.

 

Was macht Bewusstsein zu einem Rätsel?

Emil du Bois-Reymond, einer der Begründer der experimentellen Physiologie, beschrieb das Rätsel in seinem berühmten Vortrag von 1872 mit dem Titel „Über die Grenzen des Naturerkennens“ folgendermaßen (in Auszügen):

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Emil Heinrich du Bois-Reymond (1818-1896) war einer der bedeutendsten theoretischen Mediziner der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er verband physikalische und biologische Kenntnisse mittels von ihm entwickelten physiologischen Methoden und wurde zum Begründer der neueren Elektrophysiologie.

„ … es tritt nunmehr, an irgend einem Punkt der Entwicklung des Lebens auf Erden, den wir nicht kennen und auf dessen Bestimmung es hier nicht ankommt, etwas Neues, bis dahin Unerhörtes auf, etwas … Unbegreifliches. … Dies … Unbegreifliche ist das Bewußtsein. Ich werde jetzt, wie ich glaube, in sehr zwingender Weise dartun, daß nicht allein bei dem heutigen Stand unserer Kenntnis das Bewußtsein aus seinen materiellen Bedingungen nicht erklärbar ist, was wohl jeder zugibt, sondern daß es auch der Natur der Dinge nach aus diesen Bedingungen nicht erklärbar sein wird.
… Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: ‘Ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Roth’ … Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammensein Bewußtsein entstehen könne.“

Und er schloss den Vortrag mit dem sprichwörtlich gewordenen „Ignorabimus“:

„Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein “Ignoramus” (Wir wissen es [noch] nicht) auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn trägt ihn dabei das stille Bewußtsein, daß, wo er jetzt nicht weiß, er wenigstens unter Umständen wissen könnte und dereinst vielleicht wissen wird. Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: „Ignorabimus“ (Wir werden es nicht [niemals] wissen).“

Wie weit sind wir heute, über 130 Jahre später? Ist es gelungen, du Bois-Reymonds Pessimismus zu widerlegen?

„Was Materie und Kraft seien“ wissen wir im Grunde immer noch nicht, aber dennoch hat die Wissenschaft seit jener Zeit enorm große Fortschritte in der Beschreibung von Materie, Kraft und Raum erzielt. Stellte man sich zu du Bois-Reymonds Zeiten die Atome noch als (mehr oder weniger) punktförmige Objekte vor, deren Zusammenspiel durch die relativ einfachen Newtonschen Gesetze beschrieben wurde, so sind es heute hochkomplexe Quantenfeldtheorien und Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, mit deren Hilfe wir versuchen, die materielle Wirklichkeit zu beschreiben. Und am Horizont zeichnen sich schon neue, noch umfassendere Theorien (Stringtheorie, Schleifenquantengravitation, …) ab, die unsere Vorstellungen über den Kosmos noch einmal in ungeahnten Ausmaßen erweitern und vertiefen werden.

Auch die Erforschung des menschlichen Gehirns hat in den letzten hundert Jahren große Erfolge aufzuweisen:
Im Vergleich zu anderen Organen kommt das Gehirn mit überraschend wenigen, nämlich nur zwei verschiedenen Zelltypen aus, den Nervenzellen oder Neuronen, die eine elektrische Erregung erzeugen und weiterleiten können, und den Gliazellen, die für die Ernährung der Nervenzellen sorgen und eine wichtige Rolle bei der Immunabwehr spielen.
Unser Gehirn besteht aus mehreren 100 Milliarden Nervenzellen. Das entspricht ungefähr der Anzahl der Sonnen in unserer Galaxis. Diese Nervenzellen können die vielfältigen Aufgaben des Gehirns jedoch nicht isoliert erfüllen, vielmehr steht jedes Neuron mit durchschnittlich mehreren tausend anderen Nervenzellen in Verbindung. So entsteht ein Geflecht von ungeheuerer Komplexität mit mehreren hundert Billionen (!) Zellkontakten, die auch Synapsen genannt werden.

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Ein neuronales Netzwerk

In diesen neuronalen Netzwerken werden eingehende Informationen gesammelt, verteilt, verglichen, verstärkt oder unterdrückt und in Form elektrischer Aktionspotentiale an verschiedene Gehirnzentren weitergeleitet. Im Gegensatz zu einem Computer, dessen Schaltelemente sich niemals ändern, bilden Nervenzellen keine starren Netzwerke. Die Stärke der Nervenzell-Verknüpfungen kann ständig abgeändert werden. Dieser Vorgang, auch Plastizität genannt, bildet die Grundlage von Lernen und Gedächtnis.

Aber wie sieht es mit dem „Rätsel des Bewusstseins“ aus? Konnte es inzwischen gelöst werden? Die Antwort lautet: Nein. Obwohl seit der Rede von Emil du Bois-Reymond große Fortschritte in der Erforschung der Materie und im speziellen des menschlichen Gehirns gemacht wurden, bleibt das Bewusstsein ein Rätsel.

 

Bewusstes Erleben

Die Naturwissenschaft verwendet anstelle von „Geist“ und „Seele“ lieber den Begriff „Bewusstsein“, da er weniger theologisch und metaphysisch vorbelastet ist.
Der Begriff „Bewusstsein“ hat im Sprachgebrauch eine sehr vielfältige Bedeutung. Bewusstsein umfasst die gesamte Innenwelt des Menschen, wie Gedanken, Erinnerungen, Gefühle, Empfindungen, … . Diese Fähigkeit bewussten Erlebens, sich selbst als handelndes Subjekt zu erfahren, stellt das unbegreifliche Rätsel dar.

Gefühle wie Freude, Trauer, Ärger, Wut, Überraschung und Scham färben alle unsere Erlebnisse ein. Jeder Bewusstseinsinhalt hat eine bestimmte Gefühlsqualität: Er ist angenehm oder unangenehm, interessant oder langweilig, erfreulich oder unerfreulich. Ohne Gefühlsqualität wäre unsere Welt so kalt wie die Welt der Computer und Maschinen.

Erlebnisse sind nicht einfach vorhanden wie Tische, Stühle und andere Gegenstände, sondern sie fühlen sich auf eine ganz bestimmte Art und Weise an. Sie haben eine spezifische Erlebnisqualität. In der Philosophie verwendet man dafür den Ausdruck „Qualia“. Qualia sind Erlebnisqualitäten wie beispielsweise der Anblick eines Sonnenaufgangs, das Hören eines Musikstückes oder der Genuss köstlichen Essens.

Was an unserem „Gehirncomputer“ macht bewusstes Erleben notwendig? Alle physiologischen Vorgänge könnten genauso stattfinden, ohne dass die betreffende Person irgendetwas bewusst erlebt. Man spricht in diesem Zusammenhang von der „kausalen Lückenlosigkeit im physiologischen Geschehen“. Es gibt in dem neurobiologischen Uhrwerk keine Stelle, an der bewusstes Erleben nötig wäre, damit es weiterläuft. Warum werden bestimmte Hirnprozesse von bewussten Erlebnissen begleitet? Warum haben wir überhaupt Erlebnisse? Warum verläuft nicht die gesamte Informationsverarbeitung im Gehirn unbewusst?
Ein Wesen ohne bewusstes Erleben würde wahrscheinlich überhaupt keinen echten Willen, keine echten Motive und Ziele besitzen, sondern wie ein Zombie durch die Welt gehen.

 

Innen und Außen – Zwei Perspektiven

Unser Bewusstsein nehmen wir von innen wahr, durch Introspektion (Beobachtung des eigenen Erlebens wie z.B. Gedanken, Gefühle und Verhalten). Der Zugang zum Gehirn erfolgt von außen, durch wissenschaftliche Beobachtung.

Das Bewusstsein kann nur vom Besitzer des Gehirns, einem Ich, erlebt und erfahren werden, von niemanden sonst. Das Gehirn selbst kann von beliebig vielen Forschern untersucht und beobachtet werden.

Damit bleibt uns eine auf Introspektion (Innen-, Erlebnis-, Ich-, Subjekt-, Erste-Person-Perspektive) basierende Sichtweise des Bewusstseins einerseits und eine auf wissenschaftliche Methoden beruhende Betrachtung des Gehirns (Außen-, Beobachter-, Objekt-, Dritte-Person-Perspektive) andererseits. Beide Perspektiven sind durch eine abgrundtiefe logische Kluft getrennt. Wie kann aus rein objektiven Determinanten plötzlich etwas Subjektives entstehen?

Die Neurowissenschaft leidet an der Unvereinbarkeit dieser beiden Perspektiven. Denken, Fühlen und Wollen beschreiben wir aus der Ersten-Person-Perspektive, sie sind uns nur in dieser Perspektive unmittelbar zugänglich. In der Dritten-Person-Perspektive, der wissenschaftlichen Beschreibung, kommen diese Phänomene überhaupt nicht vor.
Trotz beeindruckender Forschungsergebnisse der Neurowissenschaft bleibt unser Wissen über das Gehirn und dessen Leistungen in einem grundlegenden Sinn unvollständig: Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie das bewusste Erleben, das nur in der Ich-Perspektive gegeben ist, aus objektiv beschreibbaren Hirnprozessen hervorgehen soll.

Dennoch sind Gehirn und Bewusstsein irgendwie zu einer Einheit verbunden. Aber welcher Art ist diese Verbindung unseres Gehirns mit dem Bewusstsein? Wie bringen Milliarden von Gehirnzellen eine Innenwelt subjektiver Erlebnisse hervor? Eine noch so genaue Beschreibung der Gehirnvorgänge kann weder die Existenz noch die Beschaffenheit unseres bewussten Erlebens erklären. Es bleibt stets eine Erklärungslücke zwischen dem bewussten Erleben einerseits und den Gehirnprozessen, die ihm zugrunde liegen, andererseits.

Zurzeit haben wir keine Vorstellung, welcher Art die Verbindung des Bewusstseins mit dem Gehirn sein könnte. Was machen wir falsch? Dass das Körper-Geist-Problem trotz 3000 Jahre abendländischer Philosophie und naturwissenschaftlicher Forschung der Neuzeit nicht gelöst werden konnte, lässt den Verdacht aufkommen, dass wir etwas Grundlegendes falsch machen.
Das Problem scheint nicht in einem Mangel an Beweisen zu liegen, sondern im Fehlen eines dem Bewusstsein angemessenen konzeptionellen Rahmens. Wie es aussieht haben wir zurzeit noch nicht die richtigen Begriffe entwickelt, um das Thema erfolgreich angehen zu können.

Das ungelöste Körper-Geist-Problem weist auf einen blinden Fleck in unseren konzeptionellen Ressourcen hin, ein Gödelloch: Bewusstsein kann zwar über Bewusstsein nachdenken, darüber reflektieren, erfasst sich aber in dieser Selbstbezüglichkeit nicht ganz. Erst auf einer neuen Metaebene mit neuen begrifflichen Vorstellungen lässt sich dieser blinde Fleck in unserem Denken vielleicht schließen.


Zur Fortsetzung:   Bewusstsein 2   〉〉〉