Horizonte 1 (Takimo 19)

Das Wort Horizont hat seinen Ursprung im griechischen horizon kyklos und bedeutet begrenzender Kreis.

Für das alte Ägypten war der Horizont ein heiliger Ort, wo die Götter geboren wurden. Deshalb versuchte der Verstorbene mit Hilfe eines Bootes den Horizont zu erreichen, dort in das Boot der Sonne umzusteigen und dadurch die Unsterblichkeit zu erlangen.

Horizont als eine Trennungslinie zwischen Erde und Himmel

Der Horizont als eine Trennungslinie zwischen Erde und Himmel

Im Mittelalter wurde die Welt vertikal in zwei Seinssphären aufgeteilt, die sublunare Welt (das ist die irdische, sich ständig verändernde Welt) und die translunare Welt (die himmlische, ewige Welt). Die Mondbahn bestimmte die Grenze zwischen der irdischen und der jenseitigen Welt. In der Renaissance entwickelte sich die Zentralperspektive als eine neue Kunst, Bilder perspektivisch richtig zu malen, und die Horizontlinie wurde zu einem wichtigen Konstruktionsmittel.

Der Horizontbegriff strahlte inspirierend auf die Philosophie und die sich entwickelnde Mathematik der Neuzeit aus. Immanuel Kant (1724-1804, deutscher Philosoph) benutzte den Horizont als eine Metapher für die Grenze menschlicher Erkenntnis, und mit Girard Desargues (1591-1661, französischer Architekt und Mathematiker) begann die Projektive Geometrie, die auch eine mathematische Wissenschaft vom Horizont und dem Unendlichen genannt werden kann. Einen vorläufigen Höhepunkt fand die Projektive Geometrie in den Arbeiten von Arthur Cayley (1821-1895, englischer Mathematiker), der sagte, “projective geometry is all geometry”, und Felix Klein (1849-1925, deutscher Mathematiker) mit seinem Erlanger Programm. In der Physik war es anfangs vor allem Paul Dirac (1902-1984, britischer Physiker, Nobelpreisträger und Mitbegründer der Quantenphysik), der sich intensiv mit der Projektiven Geometrie beschäftigte, woraus er viele, wenn nicht die meisten seiner Inspirationen empfing, dies aber lange geheim hielt, sodass man von Dirac’s hidden geometry spricht.

Heute ist die Projektive Geometrie bzw. der Horizontbegriff von großer Bedeutung für die Kosmologie, die Theorie Schwarzer Löcher und die Suche nach einer zukünftigen Quantengravitationstheorie.

 

Der irdische Horizont

Wie mag es wohl Seefahrern früherer Zeiten ergangen sein, wenn sie sich mit ihren oft kleinen Schiffen auf das endlos scheinende Meer hinaus wagten, um fremde Länder zu entdecken? Am Anfang der Reise kehrte ihr Blick vermutlich immer wieder zu dem schnell kleiner werdenden Heimathafen zurück, von dem es galt Abschied zunehmen. Bald schon aber war jegliches Land aus dem Gesichtsfeld verschwunden, und wohin man jetzt auch sah, nichts als Wasser und der Himmel darüber. Irgendwo da vorne in Fahrtrichtung, an jener Grenzlinie, wo sich Wasser und Himmel berührten, würde vielleicht eines fernen Tages jenes unbekannte neue Land auftauchen: zunächst noch winzig klein und schemenhaft verschwommen wie ein Traum, dann immer größer werdend. Was wird die Seefahrer dort erwarten?

Der Begriff des Horizonts hat seit jeher eine große Faszination auf die Menschen ausgeübt, stellt er doch gewissermaßen eine Grenzlinie dar, die uns wie ein Kreis umschließt, in dessen Mittelpunkt wir stehen. Der Horizont trennt Beobachtbares von Unbeobachtbarem, Sichtbares von Unsichtbarem, das Bekannte vom Unbekannten. Der Begriff Horizont schwebt eigentümlich zwischen Objektivität und Subjektivität, Realem und Irrealem.

Auch wenn man mit dem Wort Horizont oft das unendlich Ferne assoziiert (wie in der Zentralperspektive und der Projektiven Geometrie idealisiert als unendlich ferne Gerade), so ist der das Gesichtsfeld begrenzende Kreis auf der Erde doch von endlichem Radius. Wie weit der Horizont von unserem Standpunkt entfernt ist, hängt von zwei Größen ab: der Höhe des Auges über der Wasseroberfläche (bzw. Erdoberfläche) und der Erdkrümmung (also dem Erdradius). Die Konstruktion des Horizonts geschieht folgendermaßen. Zunächst wird die Erde als ein Kreis gezeichnet. Das Auge des Beobachters wird als ein Punkt außerhalb dieses Kreises dargestellt. Sehstrahlen, die vom Auge ausgehen, sind dann Geraden durch diesen Augpunkt. Zeichnet man mehrere solcher Geraden, wird man feststellen, dass diese in zwei Klassen zerfallen: solche, die den Kreis in zwei Punkten schneiden (die sichtbare Wasseroberfläche), und andere, die ihn nicht schneiden (der Himmel, oder auf die Erde bezogen das Unsichtbare). Dazwischen gibt es aber genau zwei Geraden, die den Kreis jeweils in nur einem Punkt schneiden, ihn als Tangente berühren. Diese zwei Tangentenpunkte definieren den Horizont, die Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Eine solche Konstruktion heißt Spiegelung am Kreis oder Inversion am Kreis und spielt in der Geometrie eine wichtige Rolle.

Inversion am Kreis

Durch eine Spiegelung (Inversion) am Kreis wird in der Ebene eine Dualität definiert: Zu jedem Pol (Punkt) existiert eine Polare (Gerade) – und umgekehrt

Diese Konstruktion kann analog auf drei Dimensionen übertragen werden. Man erhält jetzt eine Spiegelung an der Kugel (Erde), und aus den zwei Tangentenpunkten wird der Horizontkreis. Mit Hilfe des „Satz des Pythagoras“ lässt sich die Entfernung des Horizonts vom Auge des Beobachters wie folgt berechnen: w = √[(r + h)²- r²] (w = Entfernung zum Horizont, √ bedeutet Quadratwurzel, r = Erdradius, h = Höhe des Beobachters). Zwei Beispiele: Bei einer Augenhöhe von 2 Metern kann man 5 Kilometer weit sehen und von einem kleinen Berg mit 250 Metern Höhe gut 56 Kilometer.

Vor allem drei Dinge machen den Horizont zu etwas Geheimnisvollem. Erstens: Seine Entfernung kann zwar genau angegeben werden, aber er ist etwas vollkommen Immaterielles, reine Form. Zweitens: Wir selbst bleiben immer im Mittelpunkt des Horizontkreises, wohin wir auch gehen. Er ist wie ein unsichtbarer zweiter Körper, der uns umgibt. Drittens: Er induziert eine Polarität, die sich z.B. in den Worten sichtbar und unsichtbar ausdrückt.

Der irdische Horizont hat seine Ursache in der Kugelgestalt der Erde. Lässt man den Erdradius gegen Unendlich gehen, verwandelt sich die Erdoberfläche in eine unbegrenzte Ebene, der Radius des Horizontkreises geht ebenfalls gegen Unendlich, und der Horizont verwandelt sich in die unendlich ferne Gerade der Projektiven Geometrie.

 

Der kosmische Horizont

Verlassen wir jetzt die Erde und fliegen in den Weltraum hinaus. Gibt es da draußen auch so etwas wie einen Horizont? Zunächst scheint unseren Blick nichts zu begrenzen. Immer stärkere Teleskope reichen immer weiter in den Weltraum. Galaxien folgen auf Galaxien. Aber das Merkwürdige daran ist, je tiefer wir in den Raum hinausschauen, umso jünger erscheinen die Galaxien, bis wir sie sogar in ihrer Entstehungsphase beobachten können. Danach kommt ein Raumgebiet, in dem noch nicht einmal Sterne existieren, nur endlose Wasserstoffwolken. In 13,7 Milliarden Lichtjahren Entfernung stoßen wir dann plötzlich auf eine Art Vorhang aus Licht, einen Horizont, hinter den wir mit keinem noch so starken Teleskop blicken können.

Da Licht von entfernten Objekten eine bestimmte Zeit benötigt, bis es unser Auge erreicht, bedeutet in den Weltraum schauen immer auch in die Vergangenheit schauen. Unsere Nachbargalaxie Andromeda in 2,5 Millionen Lichtjahren Entfernung zeigt sich uns heute so, wie sie vor 2,5 Millionen Jahren aussah. In 13,7 Milliarden Lichtjahren Entfernung beobachten wir das Universum, wie es kurz nach dem Urknall war: 380 000 Jahre nach dem Urknall hatte sich das Universum so weit abgekühlt, dass sich die elektrisch geladenen Elektronen und Protonen zu elektrisch neutralem Wasserstoff verbinden konnten. Das hatte zur Folge, dass die Photonen (Licht) von nun an nicht sofort wieder gestreut wurden (Thomson-Streuung), und das Licht konnte sich jetzt frei bewegen, das Universum wurde optisch transparent. Dieser damals 3000 Kelvin heiße Feuerball ist durch die Ausdehnung des Weltalls bis heute auf 2,7 Kelvin abgekühlt und wird als kosmische Hintergrundstrahlung bezeichnet. Sie ist inzwischen so schwach, dass sie nur noch mit Spezialgeräten gemessen und sichtbar gemacht werden kann.

kosmische Hintergrundstrahlung

Die Abbildung zeigt die vom Satelliten WMAP aufgezeichnete kosmische Hintergrundstrahlung. Sie wird fast völlig gleichmäßig aus allen Richtungen des Weltalls gemessen. Die unterschiedlichen Farben zeigen minimale Abweichungen der Temperatur. Bild: NASA/WMAP Science Team

Dieser nur noch schwach glimmende Vorhang aus Licht weist alle Eigenschaften eines Horizonts auf: Er stellt eine optische Grenze dar, hinter die wir nicht blicken können. Dieser Horizont umschließt uns als eine Kugel mit einem Radius von 13,7 Milliarden Lichtjahren, und wir befinden uns als Beobachter immer genau im Mittelpunkt. Dieser uns kugelförmig umschließende Horizont ist reine Form, denn würden wir 13,7 Milliarden Lichtjahre weit reisen, stießen wir nicht etwa auf den Lichtvorhang, sondern fänden nur ganz gewöhnlichen Raum und Sterne. Der Lichtvorhang wäre jetzt wieder genau so weit entfernt wie vorher, nämlich 13,7 Milliarden Lichtjahre. Der Lichtvorhang hat seinen Ursprung in der fernen Vergangenheit des Universums, und dorthin können wir ohne Zeitreise nicht gelangen.

War es bei der Erde die Krümmung, die den Horizont verursachte, so ist es jetzt die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit und die Tatsache, dass das Universum vor 13,7 Milliarden Jahren seinen Anfang nahm und erst nach weiteren 380 000 Jahren optisch transparent wurde. Dieser Horizont wird auch als kosmischer Horizont bezeichnet und definiert die Grenze, von wo wir noch elektromagnetische Wellen (Photonen, Licht) empfangen können.

 

Der Ereignishorizont

Wird Masse derart stark komprimiert, dass ihr Volumen einer Kugel mit Schwarzschild-Radius entspricht, implodiert sie durch ihre eigene Gravitationskraft. Ein Schwarzes Loch ist entstanden, eine Singularität (ein Punkt mit unendlich hoher Massendichte), umgeben von einem Ereignishorizont. Dieser markiert den Bereich, ab dem nichts mehr dem Schwarzen Loch entkommen kann (weder Materie, noch Licht) und schirmt die Singularität somit vom restlichen Universum ab. Auch der Ereignishorizont trennt also Beobachtbares von Unbeobachtbarem. Nur stehen jetzt nicht wir im Mittelpunkt des Horizonts, wie in den beiden vorangegangenen Beispielen, sondern die Singularität.

Schwarzes Loch

Ein Schwarzes Loch. Konzeptzeichnung NASA

Im Falle von nicht rotierenden und elektrisch neutralen Schwarzen Löchern ist der Ereignishorizont die Oberfläche einer Kugel um die zentrale Singularität. Der Radius dieser Kugel ist der Schwarzschild-Radius.*

Das ist aber erst die halbe Wahrheit. Beobachtet man in sicherem Abstand, wie ein gestrandeter Raumfahrer in ein Schwarzes Loch gezogen wird, passiert folgendes: Zunächst fällt er, von der enormen Kraft des Schwarzen Lochs angezogen, immer schneller auf den Ereignishorizont zu. Aber kurz bevor er diesen erreicht, geschieht etwas Seltsames. Sämtliche Bewegungen werden langsam eingefroren, und der Raumfahrer bewegt sich jetzt wie in Zeitlupe. Je näher er dem Ereignishorizont kommt, umso langsamer werden seine Bewegungen, und das Licht, das wir von ihm noch sehen, wird immer schwächer. Für einen außenstehenden Beobachter erreicht der Raumfahrer erst in der unendlich fernen Zukunft den Ereignishorizont. Der Grund liegt darin, dass die Zeit unter dem Einfluss der immer stärker werdenden Gravitation immer langsamer vergeht und am Ereignishorizont ganz zum Stillstand kommt.

Dieser zeitliche Aspekt des Ereignishorizonts wird gerne übergangen. Schwarze Löcher besitzen nicht nur einen räumlichen, sondern auch einen zeitlichen Horizont, und sind somit genau genommen Objekte der unendlich fernen Zukunft!

Aus der Sicht des gestrandeten Raumfahrers läuft der Vorgang aber ganz anders ab. Der Raumfahrer spürt, dass er von der Gravitation immer schneller angezogen wird, und nach einer bestimmten Zeit überschreitet er den Ereignishorizont, ohne an diesem Ort etwas Besonderes zu sehen oder zu bemerken. Dann verschlingt ihn auch schon die Singularität.

Schwarze Löcher sind dafür bekannt, dass sie unser Vorstellungsvermögen stark strapazieren, aber diese beiden – je nach Beobachterperspektive gänzlich unter­schiedlichen Wahrnehmungen des Geschehens finden ihre wissenschaftliche Begründung in Einsteins Relativitätstheorie.

Eine weitere wichtige Eigenschaft Schwarzer Löcher ist das holographische Prinzip. Es besagt, dass jede Information, die in ein Schwarzes Loch fällt, am Ereignishorizont in den dortigen Quantenfluktuationen des Vakuums codiert gespeichert wird (ähnlich einem zweidimensionalen Hologramm, das eine dreidimensionale Bildinformation enthält). Durch die Hawking-Strahlung wird dann diese Information wieder in den Weltraum abgegeben.

Es hat sich für die Suche nach einer zukünftigen Theorie der Quantengravitation als sehr fruchtbar erwiesen, das Konzept des Ereignishorizonts Schwarzer Löcher und das damit verbundene holographische Prinzip auf das gesamte Universum zu übertragen. Dabei werden der Raumzeit des Universums unendlich ferne Raum- und Zeitpunkte hinzugefügt, die zusammen einen Horizont bilden. Solche unendlich fernen Punkte heißen in der Projektiven Geometrie auch ideale oder uneigentliche Punkte (d.h. nur der Idee nach vorhanden) und werden in der Fortsetzung näher erläutert. Auch wird sich zeigen, dass ein solcher Ereignishorizont des Universums ein ganz besonderer Horizont mit außergewöhnlichen Eigenschaften und Implikationen ist.

Zum Schluss noch eine seltsame Analogie. Überschreitet ein Mensch die Schwelle vom Leben zum Tod, dann bleibt für einen „außenstehenden Beobachter“ (einen lebenden Beobachter im Diesseits) nur noch der bewegungslose Körper zurück. Schenkt man Nahtoderfahrungen Glauben, dann merken Verstorbene oft nicht sofort, dass sie die Grenze zum Jenseits bereits überschritten haben. Aber selbst im Schlaf, wenn unser Körper für Außenstehende ruhig daliegt, haben wir einen Horizont überschritten und befinden uns während der Nacht in einer anderen Welt.** Auch für außenstehende Beobachter eines Schwarzen Lochs „erstarrt“ der Körper des Raumfahrers in der Nähe des Ereignishorizonts langsam in der Zeit, während der Raumfahrer beim Überschreiten des Horizonts selbst nichts davon bemerkt. Das legt die Frage nahe, ob die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits nicht auch ein ganz spezieller Ereignishorizont ist.

In dem Science-Fiction-Film Das Schwarze Loch (Disney Studios, 1979) überquert gegen Ende des Films das Raumschiff Cygnus den Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs. Während die Guten in ein unbekanntes Raumgebiet entkommen können, verbleibt der Bösewicht Dr. Hans Reinhardt in einem jenseitigen, höllenartigen Gebiet.


* Er würde für die Erde 9 Millimeter und für unsere Sonne 3 Kilometer betragen.

** “Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt (koinos kosmos), die Schlafenden aber wenden sich jeder seiner eigenen Welt (idios kosmos) zu.” (Heraklit von Ephesos, ca. 540-480 v. Chr., griechischer Philosoph)


Zur Fortsetzung:   Horizonte 2   〉〉〉