Horizonte 10 – Teil A (Takimo 33)

Nie hätte das Auge jemals die Sonne gesehen,
wenn es nicht selber sonnenhaft wäre; …
Plotin, Enneaden

Untersucht Naturwissenschaft menschliches Sehen, dann wird sie als Erstes den Weg des Lichtes verfolgen und dabei feststellen, dass das Auge die vom Gegenstand kommenden Lichtstrahlen mithilfe einer wässrigen Linse nach den Gesetzen der Optik bricht. Das Resultat dieses Abbildungsprozesses ist ein kleines auf dem Kopf stehendes Bild des Gegenstandes auf der Rückwand (Netzhaut) des Auges. Der Funktionsweise nach ist ein solches Auge eine Camera obscura, bei der die kleine Lochöffnung, zwecks größerer Lichtempfindlichkeit, durch eine Linse ersetzt wurde. Die Fortführung der Analyse des Sehvorgangs wird dann zeigen, dass die unterschiedlichen Intensitäten der Lichtpunkte, aus denen sich das projizierte Bild zusammensetzt, in Gehirnströme entsprechender Stärke umgewandelt und ins Sehzentrum des Gehirns weitergeleitet werden, wo sich schließlich ihre Spuren in den dunklen Gängen der Gehirnwindungen verlieren.

Das Sehen aus physikalisch-biologischer Sicht

All diese Vorgänge kann Naturwissenschaft in großer und bewunderungswürdiger Detailfülle beschreiben. Aber selbst wenn sie das Licht als ein elektromagnetisches Feld interpretiert, das den Maxwellgleichungen gehorcht, die Arbeitsweise der Augenlinse mit Hilfe der Optik erklärt und das Gehirn als ein Neuronales Netz modelliert, so ist das Ganze doch nicht viel mehr als die Beschreibung einer Kamera mit angeschlossenem Computer. Die Naturwissenschaft erklärt uns zwar die materiellen Aspekte eines funktionierenden Sehens, aber sie weiß keine Antwort auf die Frage, wer oder was da eigentlich sieht (ein kleines Männchen vor einem Bildschirm mitten im Gehirn, wie es die Schaubilder von Fritz Kahns Mensch-Maschine-Analogien zeigen?). Wie es kommt, dass die Gegenstände des Sehens draußen im Raum und nicht im Kopfinneren sind, wo sie nach dem verfolgten Licht- und Signalweg eigentlich sein müssten, weiß auch keine Naturwissenschaft zu beantworten.

Spontan (d.h. wenn man vorher nicht zuviel nachdenkt, was manchmal auch von Vorteil sein kann) weiß natürlich (fast) jeder sofort, wer der Sehende in einem wirklichen Vorgang des Sehens ist: „Ich bin es, der sieht!“ wird die Antwort sein.

Ein solches Ich, wie es für eine befriedigende Beschreibung des gesamten Sehvorgangs eines Lebewesens notwendig wäre, fällt aber aus dem Rahmen naturwissenschaftlicher Beschreibung. Naturwissenschaft ist ja gerade die objektive Wissenschaft par excellence, und das Ich steht andererseits für das Subjektive schlechthin.

Dass die Naturwissenschaft, speziell die Physik, mit einem Begriff wie dem Ich nichts zu tun hat, stimmt aber nicht ganz. Es gibt dort an Stelle des Ichs, als eine Art Stellvertreter, einen (etwas versteckt agierenden) Beobachter. Dieser Beobachter des (physikalischen) Geschehens kann verschiedene Standpunkte und Perspektiven einnehmen und wird mathematisch durch eine sogenannte Transformationsgruppe dargestellt. Diese ist für die Konstruktion einer entsprechenden Physik mit ihren Invarianten und damit objektiven (beobachterunabhängigen) physikalischen Größen von ausschlaggebender Bedeutung. Nur ist ein Beobachter innerhalb des Formalismus der Physik ein schwacher schemenhafter Schatten eines wirklichen Ichs. Gelänge es, dem Beobachter der Physik etwas mehr „Leben“ einzuhauchen, indem u.a. die Transformationsgruppe durch zusätzliche Perspektiven entsprechend vergrößert wird, dann ließe sich vielleicht auch der Abgrund zwischen Physik und Philosophie überbrücken, und es wäre eine einheitliche Beschreibung von Materie (Physik) und Bewusstsein (Philosophie) möglich. Einen derartigen Anfang zu finden ist das Ziel.
Um diesen Brückenschlag besser zu verstehen, soll das (menschliche) Sehen noch einmal, diesmal aus der Perspektive der Philosophie, betrachtet werden.

Wenn ein Philosoph vom Sehen und Denken spricht, dann kommt staunenswerter Weise das Wort „Auge“ oder „Gehirn“ so gut wie nie vor. Ein Philosoph spricht lieber (zumindest seit Kant) von den Anschauungsformen des äußeren und inneren Sinnes oder den Denkformen des Verstandes.

Bei Immanuel Kant (1724-1804, dt. Philosoph) geht der Sehvorgang folgendermaßen vor sich. Zunächst ist da eine unbestimmte (und auch unbekannte) Materie, die das Gemüt (das Bewusstsein) affiziert (darauf einwirkt) und zu Empfindungen führt. Nun gibt es im Bewusstsein nach Kant eine universelle Struktur (die Anschauungsform des äußeren Sinnes), welche diese zunächst raumlosen Empfindungen in raumhafte Wahrnehmungen, in ausgedehnte und im Raum angeordnete Objekte verwandelt. Wohlgemerkt: Dieser Raum ist nicht der Raum der Physik, der wie bei Newton einer leeren (wenn auch unendlich großen) Schuhschachtel gleicht, in die man irgendwelche Gegenstände legt, sondern eine aktive Struktur (Form) unseres Bewusstseins. Was diese Materie, die unser Bewusstsein affiziert, unabhängig von unserem Bewusstsein ist, können wir nach Kant nicht wissen. Denn wir bemerken sie erst, wenn sie in unser Bewusstsein tritt. Tut sie das, dann wird sie durch unser Bewusstsein, durch die Form des äußeren Sinnes, augenblicklich zu etwas Ausgedehntem und im Raum angeordneten. Zu den äußeren Sinnen sind neben dem Seh- auch Gehör- und Tastsinn zu zählen. Wenn jemand Schwierigkeiten mit dem Gesagten hat, dann ist er, wie ein Blick auf die Kant-Rezeption zeigt, nicht alleine. Die Frage, was Raum, Zeit und Materie ohne ein wahrnehmendes Bewusstsein sind, lässt Kant schlussendlich unbeantwortet, weil sie nach Kant eben nicht beantwortbar ist.

Mit Kant sind wir also ganz in der Welt des Bewusstseins. Darum ist ihm Alles Phänomen, Erscheinung. Was die Dinge außerhalb unseres Bewusstseins sein mögen, können wir nicht wissen, denn wir nehmen sie ja erst wahr, wenn sie in unser Bewusstsein treten, aber dann sind sie auch schon Teil unseres Bewusstsein und von diesem geformt. Was also Dinge außerhalb unseres Bewusstseins sind, wissen wir nicht, und sie werden von Kant als Ding-an-sich oder transzendentales Objekt bezeichnet. Kant behauptet nicht, dass die Welt der Materie erst durch unsere Wahrnehmung entsteht und existiert, sondern nur, dass sie, so wie sie erscheint, wesentlich durch unser Bewusstsein strukturiert wird und wir sie darum ihrem wahren Wesen nach nicht kennen können. Deswegen spricht man bei Kant auch von einem kritischen Idealismus.
Die durch das Tor des äußeren Sinnes in unser Bewusstsein gelangte Materie und dadurch angestoßenen Empfindung nimmt derweilen ihren Weg zur Einbildungskraft, dann weiter zum transzendentalen Schema und dem Verstand bis hinauf zum transzendentalen Ich (Apperzeption), alles Stationen, wo die ursprüngliche Materie vom Bewusstsein jeweils spezielle Ausformungen erhält, und so das Sehen schließlich zu einem Erkennen transformiert wird.

In dieser kurzen Analyse des Sehvorgangs wird die ganze Kluft sichtbar, die eine physikalische von einer philosophischen Sichtweise trennt.
In der Physik ist alles leblose Materie: Masse, Kraft, Energie, Licht, Ströme, elektrische Ladungen usw., und die naturwissenschaftliche Beschreibung des Sehvorgangs gleicht der einer Kamera mit angeschlossenem Computer. Sie weiß nichts von einem Bewusstsein.
In der (idealistischen) Philosophie haben wir das andere Extrem: Alles ist Bewusstsein und die Materie zunächst nur ein unbestimmtes Etwas, das durch die Strukturen (Formen) unseres Bewusstseins, seien sie apriorisch (der Erfahrung vorausgehend) oder aposteriorisch (auf Basis von Erfahrung), erst bestimmt (geformt) wird. Materie außerhalb unseres Bewusstseins ist ein unbestimmtes Etwas, von dem wir nichts wissen können, ein Ding-an-sich, ein transzendentales Objekt. Wenn wir die Welt mit den Augen der Philosophie betrachten, dann schauen wir uns in gewissem Sinne selbst an, da die Materie, die wir erblicken (welche in Erscheinung tritt), wesentlich nach den Strukturen unseres Bewusstsein geformt ist. Die wahre Welt, wie sie hinter dem Schleier der Erscheinungen sein mag, können wir mit unserem Bewusstsein nicht erblicken, denn unser (begrenztes) Bewusstsein ist Teil dieses Schleiers.

Zunächst scheint sich ein unüberbrückbarer Dualismus aufzutun: auf der einen Seite Raum, Zeit und Materie, die vollkommen unabhängig von jeglichem Bewusstsein sind. Auf der anderen Seite Raum und Zeit als apriorische Formen unseres Bewusstseins – und eine Materie, die erst durch solch ein Bewusstsein zu einer Erscheinung mit Ausdehnung im Raum und Dauer in der Zeit wird.

Ein sehr altes Symbol des Dualismus im Weltverständnis ist der doppelköpfige Janus, der römische Gott der Zeit, von Anfang und Ende.

Sieht man aber genauer hin stellt sich heraus, dass die Kluft zwischen Physik und einer idealistischen Philosophie doch nicht so groß und unüberbrückbar ist, wie es zunächst den Anschein hat.

In der Physik ist es, wie schon erwähnt, der Beobachter, der mit seinen Perspektiven das physikalische Geschehen beobachtet. Alle Perspektiven des Beobachters, die möglich sind, bilden zusammen in der mathematischen Sprache eine Transformationsgruppe. Die Physik sucht nun beim Aufbau einer physikalischen Theorie nach den Invarianten einer solchen Transformationsgruppe, d.h. nach jenen Objekten, die sich bei einem Wechsel der Perspektive nicht verändern, also unabhängig von der jeweiligen Beobachterperspektive sind. Eine objektive physikalische Größe zu sein bedeutet zwar Unabhängigkeit von der jeweilig eingenommenen Perspektive, aber andererseits werden solche objektiven Größen erst durch die Gesamtheit möglicher Perspektiven eines Beobachters konstituiert. Es ist diese Forderung der Invarianz (bezüglich der „Gesamtheit aller möglichen Perspektiven eines Beobachter“), die im Wesentlichen erst ein Sprechen über eine objektive Beschreibung der Welt sinnvoll macht. Objektivität sollte also besser mit „absolute Verbindlichkeit für alle Ichs“ übersetzt werden, da die Formulierung „unabhängig von einem Ich“ schnell zu der falschen Interpretation verführt, das Ich wäre für eine objektive Beschreibung der Welt nur hinderlich und damit überflüssig.

Wenn es auf der anderen Seite, der Seite der Philosophie, gelingt, die in Kants „Kritik der reinen Vernunft“ entworfene Architektonik des Bewusstseins mit ihren apriorischen (d.h. der Erfahrung vorausgehenden, notwendigen und allgemeinen) Formen in eine Sprache der Perspektive zu übersetzen, dann beginnt sich die Kluft zwischen Physik und Philosophie, zwischen Materie und Bewusstsein, zu schließen.

Dazu ist notwendig, dass:
1. an die Stelle eines schattenhaften Beobachters im Zentrum eines Koordinatensystems der höchste Einheitspunkt des Bewusstseins, die transzendentale Apperzeption, das „Ich bin“ tritt.
2. die Transformationsgruppe der Relativistischen Physik, die Poincarégruppe, mindestens zu einer konformen Gruppe erweitert wird.
3. man die zugrunde liegende projektive Struktur, mit ihrem Lichtkegel in einer 6-dim Raumzeit, offenlegt, um die verschiedenen Bereiche und Horizonte von Perzeptionen und Projektionen sichtbar zu machen, damit Empfindungen, zumindest nach ihrer Intensität, als eine intensive Größe, mathematisch darstellbar werden.

Um dieses Projekt einer neuen, mathematischen Metaphysik, einer neuen MAN (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft) noch besser zu begründen und deren Konstruktion durchsichtiger zu machen, sollen einige weitere Argumente und Anregungen aus der Philosophie herbeigebracht werden.


Zur Fortsetzung:   Horizonte 10B   〉〉〉