Unendlichkeit 2 (Takimo 17)

Irgendwann in der Urvergangenheit entwickelte sich bei unseren menschlichen Vorfahren der aufrechte Gang, wodurch der Blick fast zwangsläufig auf den nächtlichen Sternenhimmel fiel. Sie spürten das Unendliche, das von da oben auf sie herabströmte, und der Himmel wurde ihnen zum Wohnort der Götter.

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Das Sternbild Orion aus Johann Bayers (1572-1625) Himmelsatlas Uranometria. Die Antiken Griechen identifizierten diese Sternen­konstellation mit dem großen Jäger Orion, Sohn des Meeresgottes Poseidon. Die Ägypter sahen darin eine Widerspiegelung ihres Gottes Osiris und für die Wikinger war es der Donnergott Thor.

Als der Mensch im Laufe der Evolution die Stufe des Selbstbewusstseins (Bewusstsein seiner selbst) erreichte, wurde er sich zudem der Endlichkeit seines Daseins und somit seiner Sterblichkeit bewusst. Seit jener Zeit beschäftigt ihn die Frage, ob im Menschen etwas Ewiges, Unvergängliches existiert und es ein Leben nach dem Tode gibt.

Diese wenigen Beispiele mögen zeigen, dass Fragen nach dem Ewigen und Unendlichen existenziell schon sehr früh mit der Menschheit verbunden waren.

Sprach anfangs das Unendliche noch unmittelbar, durch die unberührte Natur in der Gestalt des Erhabenen, zum Menschen, so findet in späteren Zeiten eine solche Begegnung immer seltener statt, und das Unendliche tritt uns heute oft nur noch in Form abstrakter Symbole und Gedanken entgegen, ohne wirkliches Erleben.

Der Begriff Unendlichkeit hat Eingang in die Philosophie, die Kunst (z.B. die Zentralperspektive der Renaissance mit ihrem Begriff des Horizonts als unendlich ferne Gerade), die Mathematik (z.B. der projektive Raum, der sich aus der Zentralperspektive der Renaissance entwickelt hat) und in verschiedene physikalische Theorien gefunden.

In der Philosophie spielt(e) das Unendliche immer wieder eine zentrale Rolle. Exemplarisch für den Umgang mit dem Unendlichen in der Philosophie seien im Folgenden Nikolaus von Kues, Baruch de Spinoza und Immanuel Kant (seine Lehre vom Erhabenen) näher ausgeführt. Obwohl deren philosophische Systeme schon mehrere hundert Jahre alt sind, üben sie heute noch einen inspirierenden Einfluss auf die moderne Wissenschaft aus.

 

Das absolut Unendliche

Nikolaus von Kues (latinisiert Nicolaus Cusanus) war ein deutscher Philosoph, Theologe und Mathematiker (1401-1464). Cusanus gilt als der bedeutendste Philosoph des 15. Jahrhunderts. Viele der philosophischen und wissenschaftlichen Entwicklungen der Neuzeit waren bereits keimhaft in seinen Gedankengängen vorgezeichnet.

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Nikolaus von Kues (1401-1464)

Grundlage seiner Philosophie ist die Annahme eines Urgrundes, der seit dem griechischen Philosophen Anaxagoras (499-428 v. Chr.) als Nous (Geist, Weltvernunft, intellectus, Gott) bezeichnet wird. Laut Cusanus gehen aus diesem weltbegründenden intellectus alle Wesen hervor, damit er sich ihnen zeigen kann. Dieser Urgrund macht sich also selbst zum Sinnziel seiner Werke.

Für Cusanus ist dieser schöpferische Urgrund das absolut Unendliche. Das Universum geht daraus durch Ausfaltung (explicatio) hervor. Diese erste Ausfaltung des absolut Unendlichen ist ebenfalls unendlich, es ist aber eine Unendlichkeit von geringerer Qualität: unendlich nicht mehr in jeder Hinsicht, sondern nur nur noch im Sinne von unbegrenzt. Umgekehrt findet im Urgrund eine Einfaltung (complicatio) alles Geschaffenen statt. Damit ist das Ineinsfallen der Gegensätze zu einer Einheit verbunden. Dieser Zusammenfall der Gegensätze im intellectus wird als Koinzidenz (coincidentia oppositorum) bezeichnet und bildet einen Hauptgedanken in der Philosophie des Cusanus.

Der Urgrund ist eine unteilbare Einheit, die als absolutes Maximum alles umfasst und zugleich als absolutes Minimum (als maximale Kleinheit) in allem erscheint. Cusanus entwickelte eine neuartige Methode (ausgeführt in seiner Schrift De beryllo), wie man gleichsam durch eine geistige Brille diese Einheit schauen kann. Sie besteht darin, von jeder Größe sowohl das Maximum als auch das Minimum zu bilden und beide solange zu verfolgen, bis das Maximum mit dem Minimum zusammenfällt. Durch den Zusammenfall von Maximum und Minimum ist man dann in der Lage, den Urgrund wie durch eine geistige Brille zu betrachten. Diese Vorgehensweise hat er mit zahlreichen Beispielen aus der Geometrie zu beschreiben versucht. So war Gott für ihn (als ein geometrisches Sinnbild) vergleichbar mit einer unendlichen Sphäre, deren Mitte überall und deren Umkreis nirgends ist.

Mathematisch Endliches zur mathematischen Unendlichkeit zu führen (um so den Weg zur absoluten Unendlichkeit des Urgrundes anschaulich darzustellen), gehört zu den Vorstufen der Entwicklung der Infinitesimalrechnung, wie sie dann über zweihundert Jahre später von Isaac Newton (1643-1752) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) unabhängig voneinander entwickelt wurde.

Auch hat Cusanus lange vor Giordano Bruno (1548-1600) das mittelalterliche Weltbild in Frage gestellt. Cusanus behauptete aufgrund metaphysischer Betrachtungen, dass das Weltall unendlich ist und die Erde nicht Mittelpunkt eines hierarchisch geordneten Universums sein kann. Er entwickelte die für seine Zeit äußerst revolutionäre Idee, die Himmelskörper seien grundsätzlich nicht anders beschaffen als die Erde, und andere Gestirne könnten ebenfalls von Vernunftwesen bewohnt sein.

Für Cusanus war der Urgrund noch die alles umfassende und in allem erscheinende Einheit, die nicht nur die materiellen Dinge sondern auch das erkennende Subjekt mit einschloss.

Mit René Descartes (1596-1650) trat dann eine nicht mehr zu überbrückende Kluft zwischen Materie und Geist* auf. Descartes ordnete der Materie und dem Geist zwei unterschiedliche Substanzen zu: res extensa (die räumlich ausgedehnte Substanz, Materie) und res cogitans (denkende Substanz**, Geist). Dieser Dualismus (zwei Substanzen) wirft ein entscheidendes Problem auf: Wie kann der (immaterielle) Geist den Körper überhaupt steuern und ihn zum Instrument seiner Entscheidungen machen? René Descartes glaubte, dass die Seele über die Zirbeldrüse den Körper steuert. Damit geriet er jedoch in einen unlösbaren Widerspruch zur klassischen Mechanik: Jede materielle Wirkung musste auch eine materielle Ursache haben. Wie also steuert unser Bewusstsein unseren Körper? Und umgekehrt: Wie beeinflusst unser Körper, z.B. durch Einnahme von Drogen, unser Bewusstsein?

 

Die unendliche Substanz

Baruch de Spinoza (niederländischer Philosoph, 1632-1677) versuchte, diese unüberbrückbare Kluft, die der Dualismus hervorrief, durch Schaffung eines neuen philosophischen Systems zu überwinden, das er in seinem Hauptwerk, die Ethica, Ordine Geometrico Demonstrata, beschrieb. Diese verfasste er nach der Methode von Euklids Buch Die Elemente: Ausgehend von wenigen Axiomen versucht er dort, durch Deduktion (logische Schlussfolgerung) alles weitere herzuleiten.

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Baruch de Spinoza (1632-1677)

Am Anfang seiner Philosophie steht die Formel: Substanz = Gott = Natur.

In den Propositionen 1-15 hielt er fest: „Gott ist die unendliche, substantiell in ihren Eigenschaften konstante, einheitliche und ewige Substanz“.

Die Natur in obiger Formel ist die natura naturans im Gegensatz zur natura naturata. Als natura naturans (schöpferische Natur = unendliche Substanz) erzeugt sie die natura naturata (geschaffene Natur = Welt der endlichen Dinge als Erscheinungsweisen oder Modi der unendlichen Substanz) aus sich selber.

Das, was der menschliche Intellekt an dieser unendlichen Substanz zu erkennen vermag, nannte Spinoza Attribute (Eigenschaften). Die unendliche Substanz besitze unendlich viele Attribute, der Mensch könne aber nur zwei davon erkennen: Ausdehnung (Materie) und Denken (Geist). Aus diesen beiden Attributen, die selbst noch unendlich sind, gingen die endlichen Dinge der Welt hervor, die Modi (Daseinsformen), durch welche die Attribute auf besondere Weise ausgedrückt werden.

Ebenso wie Descartes nimmt Spinoza einen Gegensatz zwischen Materie und Geist an. Bei Descartes sind Materie und Geist jedoch zwei verschiedene Substanzen (Dualismus), für Spinoza aber verschiedene Attribute einer einzigen Substanz (Monismus). Materie und Geist sind zwei verschiedenen Perspektiven der einen unendlichen Substanz. Der Mensch besteht nicht aus den zwei getrennten Substanzen Körper und Geist, sondern Körper und Geist sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Dies wird als psycho-physischer Parallelismus bezeichnet.

 

Psycho-physischer Parallelismus

Aus dem Grundgedanken des Monismus folgerte Spinoza, dass zwischen Körperwelt und Ideenreich kein Gegensatz bestehen kann, sondern dass jedem Gegenstand der körperlichen Welt eine Idee entsprechen muss und umgekehrt (Parallelismus).

Körperliche und seelische Vorgänge stellen in sich geschlossene Reihen dar, die parallel und völlig isoliert voneinander ablaufen. So wie in der Welt der materiellen Körper keine Wirkung ohne Ursache möglich ist, so ist im Geiste ein Willensentschluss ohne Motiv nicht möglich.

Seit einigen Jahren ist die traditionsreiche Frage nach der Verbindung von Leib und Seele durch die moderne Gehirnforschung wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Nach wie vor ist völlig unklar, wie aus Materie ein informationsverarbeitendes Organ (Gehirn) entstehen kann, das Bewusstsein besitzt und für das die Welt von Farben, Tönen und Gerüchen erfüllt ist. Wie entsteht aus einem materiellen Gehirn (dritte Person Perspektive) ein empfindendes und denkendes Bewusstsein (erste Person Perspektive)?

Für Spinoza wäre die Antwort klar: In der Perspektive der dritten und der ersten Person betrachten wir, wie der Name Perspektive schon nahelegt, auf zwei unterschiedliche Weisen ein und dasselbe Wesen, das in der unendlichen Substanz begründet liegt. Das Gehirn (und mit ihm der ganze Körper) wäre demnach eine spezielle Außenansicht und das zugehörige Bewusstsein eine entsprechende Innenansicht der einen unendlichen Substanz.

Dass Spinozas philosophisches System auch heute noch sehr aktuell ist, zeigen z.B. die Arbeiten des bekannten Neurowissenschaftlers António R. Damásio zur Bewusstseinsforschung. In seinen beiden Büchern Descartes‘ Irrtum und Der Spinoza-Effekt untersucht er die Wechselwirkungen zwischen Körper und Bewusstsein und kommt zu dem Schluss, dass die von Descartes postulierte Trennung zwischen Körper und Geist ein Irrtum ist. Stattdessen bestätigt seine Forschung einen unauflösbaren Zusammenhang zwischen Körper und Geist, die sich ständig gegenseitig beeinflussen – ganz im Sinne von Spinoza.

Ein anderer Begriff, der in Richtung Spinoza weist, ist Embodiment. Embodiment (deutsch: verkörperter Geist, Inkarnation) ist eine These aus der neueren Kognitionswissenschaft, nach der Intelligenz einen Körper benötigt. Diese Auffassung ist der klassischen Interpretation von Intelligenz (Computation – rechnen mit Symbolen) diametral entgegengesetzt und wird als grundlegende Wende in der Kognitionswissenschaft angesehen.

Robotiker gehen immer mehr dazu über, ihre künstlichen Wesen lieber mit einem Körper auszustatten, der seine Umgebung selbstständig erkundet, als immer kompliziertere Programme für „geistige Leistungen“ einzubauen.

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Den ersten Roboter auf der Filmleinwand zeigte der Regisseur Fritz Lang im Kinoklassiker Metropolis von 1926

Alles Geistige ist nur zu verstehen, wenn man es als Produkt einer Wechselbeziehung zwischen Körper und Umwelt sieht. Shaun Gallagher, Philosoph an der University of Central Florida und einer der Vordenker der Embodiment-Idee, begründet das so:

Die Gestalt unseres Körpers determiniert die Erfahrungen, die wir mit ihm überhaupt machen können. Wenn Sie einen anderen Körper hätten, würden Sie die Welt auch ganz anders wahrnehmen. Machen Sie doch einmal folgendes Gedankenexperiment: was würde passieren, wenn man die so genannte „menschliche Seele“ aus dem menschlichen Körper herausnehmen und einem Frosch einpflanzen würde? Hätten Sie dann wohl noch die gleiche Sicht der Welt? Ich würde sagen: natürlich nicht! Denn das Auge oder das Gehirn des Frosches sind so anders gebaut und so spezifisch an die Umwelt dieses Tieres angepasst, dass sich die Welt des Frosches und des Menschen gravierend voneinander unterscheiden.

Intelligenz, Bewusstsein und Denken leiten sich aus dem Handeln des Menschen in seiner Umwelt ab. Einem Handeln, das eben grundlegend auf körperlichen Wechselbeziehungen mit dieser Umwelt beruht.

Warum Embodiment funktioniert, lässt sich mit Spinoza leicht erklären:

Interagiert der Mensch mit seiner Umwelt, indem er z.B. einen Gegenstand in die Hand nimmt oder seinen Sehsinn auf etwas richtet, dann ist der menschliche Körper mit diesen Objekten verbunden, und damit ändert sich auch seine Körperlichkeit. Dies ist aber aufgrund des psycho-physischen Parallelismus immer auch mit einer Änderung seines Bewusstseins verbunden. Darum findet, wenn wir beispielsweise einen Stein in die Hand nehmen, nicht nur eine mechanische Kraftübertragung wie bei der Berührung zwischen toten Körpern statt, sondern in unserem Bewusstsein leuchtet zugleich auch eine lebendige Vorstellung auf, wir empfinden den Stein und legen ihm eine bestimmte Bedeutung bei.

Durch die Affektionen (Zustandsänderung) des eigenen Körpers nimmt das Bewusstsein andere Körper (bewusst) wahr, so dass sich die Welt durch die Körperlichkeit erschließt. Gleichzeitig empfindet das Bewusstsein durch die Berührungen der anderen Körper auch den eigenen Körper. Welt- und Selbstbezug sind eins.

Roboter besitzen zwar (noch?) kein Bewusstsein, aber durch einen klug gebauten Körper können sie ihre Umwelt erforschen und durch einen Lernprozess sich intelligentes Verhalten aneignen.

Da in der Sprache des Menschen bekanntlich Weisheit liegt, erklärt sich dadurch vielleicht auch die enge sprachliche Verwandtschaft zwischen Greifen und Begreifen.


* Historisch bedingt wird im Nachfolgenden nicht immer genau zwischen Geist, Seele und Bewusstsein unterschieden. Das gleiche gilt für Materie, Körper und Leib.

** Das Wort Substanz hat in der Philosophie eine andere Bedeutung als in den Naturwissenschaften: Substanz ist das, was an sich ist und durch sich selbst begriffen wird.


Zur Fortsetzung:   Unendlichkeit 3   〉〉〉