Was Immanuel Kant (1724-1804) schon vor mehr als zweihundert Jahren über den Zustand der Philosophie sagte ist heute aktueller denn je. In der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft heißt es:
Es war eine Zeit, in welcher sie die Königin aller Wissenschaften genannt wurde, und wenn man den Willen für die Tat nimmt, so verdiente sie, wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Gegenstandes, allerdings diesen Ehrennamen. Jetzt bringt es der Modeton des Zeitalters so mit sich, ihr alle Verachtung zu beweisen und die Matrone klagt, verstoßen und verlassen, wie Hecuba: „Noch vor kurzem die Mächtigste von allen und Herrscherin durch so viele Schwiegersöhne und Kinder – werde ich jetzt dem Vaterland entrissen und hilflos fortgeführt.“ – Ovid, Metam.
Heute ist die Philosophie (gleich Hecuba, Königin von Troja) wieder eine „Königin ohne Land“, nachdem sie schon einmal für lange Zeit zu einer „Magd der Theologie“ herabgestuft worden war. Ist ihre gegenwärtige Rolle nicht die eines unerwünschten Zaungastes, der überall mitreden möchte, weil Philosophen schon immer alles besser wussten?
Es gibt zwar eine Philosophie der Mathematik, eine Philosophie der Physik, eine Philosophie der Biologie etc., aber auf solche Spezial-Philosophen pflegen Fachleute der jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen eher geringschätzig herabzublicken, sind sie doch der Meinung, dass die meisten Philosophen nicht die notwendige Kompetenz mitbringen, um sinnvolle Aussagen über die Grundlagen ihres Forschungsgebietes machen zu können. Naturwissenschaft empfindet so etwas üblicherweise als unerwünschte Einmischung.
Brauchen wir also heute überhaupt noch Philosophie? Mehr denn je, da ihre seit langem erwachsen und selbständig gewordenen Kinder, die Wissenschaften, nach wie vor auf die für das menschliche Selbstverständnis so wichtigen vier Kantischen Fragen keine oder höchstens nur sehr unzureichende Antworten zu geben vermögen:
Was kann ich wissen? (Erkenntnistheorie)
Was soll ich tun? (Ethik)
Was darf ich hoffen? (Religionsphilosophie)
Was ist der Mensch? (Anthropologie)
Warum sollte es der Philosophie besser gelingen, auf diese Fragen adäquate Antworten zu geben? Weil es die ureigensten Themenfelder der Philosophie sind.
Im Phaidon hat Platon (427-347 v. Chr.) der Wissenschaftslehre eine neue Definition der Philosophie gegeben und nennt sie dort „eine Seefahrt auf der Suche nach dem Grunde“.
Bei Kant heißt das: „Philosophie ist die Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis“.
Wie aber gelangen wir zu einer Erkenntnis des Grundes?
Platon sagt: „Die Erkenntnis des Grundes ist die Anamnesis“ (Wiedererinnerung).
Kant spricht von der „Erkenntnis a priori“ (d.h. alle Erkenntnisse setzen primäre Einsichten voraus, die nicht aus der Erfahrung abgeleitet werden können).
Wahre Philosophie schreibt den Einzelwissenschaften nicht vor, wie sie ihr Handwerkszeug zu gebrauchen haben, das verstehen sie selbst am besten. Aber Philosophie fragt zum Beispiel nach den Bedingungen, unter denen Wissenschaft überhaupt möglich ist, und nach den Grenzen von Wissen, nach dem universellen Horizont von Erkenntnis. Das ist keine Grenze im herkömmlichen Sinne, auf welche die Forschung eines Tages stößt und an der dann die Wissenschaft endet. Ein Horizont stellt zwar in gewisser Weise eine Begrenzung dar, aber eine, die immer in unendlicher Ferne bleibt. Philosophie beschäftigt sich nicht mit den konkreten Einzelwissenschaften, die innerhalb eines solchen Horizontes liegen, sondern mit dem Horizont selbst, der alle Wissenschaften umschließt, und mit Fragen, was diesen universellen Horizont der Erkenntnis konstituiert und was hinter einem solchen Horizont wohl liegen mag.
Philosophie ist also „eine Seefahrt auf der Suche nach dem Grunde“. Begeben wir uns auf eine solche Seefahrt. Zuvor noch ein kurzer Überblick über die Stationen: Die Abendländische Philosophie beginnt im antiken Griechenland, weshalb unsere erste Station Platon und Aristoteles sein werden, dann geht es in schneller Fahrt weiter zu Leibniz und Kant. Dieser kurze Abriss ist nötig, da man Philosophie nur wirklich verstehen kann, wenn man wenigsten etwas von ihrem geschichtlichen Werdegang und der damit verbundenen Begriffsbildung kennt. Mit Kant verlassen wir dann vorerst die Philosophie und werden zeigen, wie sich das philosophische System von Leibniz und Kant in die Sprache der Mathematik übersetzen lässt, und wie aus einer „Philosophie der Subjektivität“ objektive (Natur-)Wissenschaft hervorgeht. Als Höhepunkt der Fahrt werden wir die vier causae (Ursachen, Gründe) des Aristoteles, die für die gesamte Philosophiegeschichte prägend waren, in den aktuellen Theoriebildungen der Physik wiederfinden, und es wird sich die Antwort der Antike auf die uralte Frage „Was ist der Mensch?“ in neuem Gewande bestätigen: Der Mensch, und mit ihm jedes Lebewesen, ist ein Abbild des Kosmos, ein Mikrokosmos.
Platon unterscheidet im Timaios zwei Arten von Erkenntnis: die intelligible Erkenntnis (Identität, Einheit, zeitliche Unveränderlichkeit) und die Erkenntnis durch sinnliche Wahrnehmung (Bewegung, Vielheit, zeitlicher Wandel). Wissen im strengen Sinne ist nach Platon nur von einem unveränderlichen Allgemeinen möglich. Das Unveränderliche ist das Sein, das sich im Wechsel des Werdens und Vergehens enthüllt und verbirgt. Platon hat dieses unveränderliche Sein, welches wir durch die Schleier der Erscheinungen hindurch (kraft der Anamnesis) zu erblicken vermögen, als „Idee“ bezeichnet. Nach Platon kann nichts in Erscheinung treten, das in seinem Grunde kein unveränderliches Sein trägt.
Im heutigen Sprachgebrauch würde man sagen, Platon vertritt eine typische Top-down Ansicht. Ausgehend von einer Welt der Ideen versucht er, alles von oben nach unten, vom Ganzen zum Teil, vom Einen zum Vielen zu begründen.
Den umgekehrten Weg (Bottom-up) beschreitet sein Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.). Aristoteles führt zunächst neue Begriffe ein. Das Unveränderliche – das Sein in den Erscheinungen – nennt er Substanz (nicht zu verwechseln mit dem, was heutzutage meistens darunter verstanden wird), genauer gesagt differenziert er zwischen einer Ersten und einer Zweiten Substanz. Die Erste Substanz ist für ihn das Wesen eines Individuums (darum auch Individuelle Substanz genannt), und die Zweite Substanz das Wesen des Allgemeinen, der Art oder Gattung (darum Universelle Substanz, Form, Platonische Idee). Das, was dann an einer Substanz konkret in Erscheinung tritt, nennt er Akzidenzien.
Da für die Antike Philosophie Sprache ein Abbild des Logos war, hieß Ontologie betreiben (Lehre vom Sein) immer auch, sich mit Sprachanalyse und Logik zu beschäftigen. So finden sich die Substanzen und Akzidenzien des Aristoteles auch in der Sprache wieder, genauer in der Urteilsform „S ist P“. S steht für das Satzsubjekt (Substanz) und P für die Prädikate (Akzidenzien).
Beispiel: Sokrates ist jung, Sokrates ist alt, Sokrates ist hungrig, Sokrates ist satt … einst war Sokrates jung, später wurde er alt, Sokrates war hungrig, dann aß er etwas und danach war er satt … jung, alt, hungrig, satt, das alles sind Akzidenzien (Erscheinungen, Phänomene), die sich an der Individuellen Substanz Sokrates zeigen. Aber immer ist es das Individuum Sokrates, an dem sich die verschiedenen und ständig wechselnden Eigenschaften zeigen. Die Substanz ist das Bleibende gegenüber dem Wechselnden, das Seins-Fundament der Akzidenzien, das Tragende gegenüber dem Getragenen und das nur Denkbare (Noumenale) gegenüber dem Erscheinungsmäßigen (Phänomenalen).
Aristoteles macht aber bei der Ersten Substanz nicht halt und fragt weiter nach dem, was diese zu dem formt, was sie ist. Damit postuliert er ein Wesen des Wesens. Sokrates ist als Erste Substanz der Kern all der Erscheinungen, die mit ihm zusammenhängen. Aber was ist die Substanz Sokrates selbst wieder? Die Antwort lautet: Sokrates ist Mensch. Sokrates wird jetzt vom Allgemeinen, von der Art her verstanden. Das Mensch-Sein ist die Zweite Substanz und sie ist nach Aristoteles eine der Natur nach Frühere. Damit taucht die Platonische Idee wieder auf. Aristoteles kommt trotz der häufigen Polemik gegen seinen Lehrer Platon vom Platonismus nicht los. Insofern ein Seiendes (Existierendes) durch die Zweite Substanz in seiner Eigenart bestimmt wird, heißt die Zweite Substanz, im logisch-ontologischen Sinne, auch Form.
So wie die Akzidenzien an der Ersten Substanz eines Individuums (als Erscheinungen) hängen, so hängen die Individual Substanzen an einer allgemeinen, Sein-verleihenden Form (Teilhabe an den Ideen bei Platon). Die Form determiniert die Erste Substanz (das Individuum) zu einem bestimmten Wesen. Alles Seiende ist Geformtsein, alles Werden Formempfangen und alles Vergehen Formverlieren.
Die Form, sagten wir, ist immer ein Früheres und Allgemeines (Art, Gattung), eine Zweite Substanz. Wie genau wird nun aus ihr die Erste Substanz, das Individuelle? Aristoteles findet den Grund in der Materie, und sie wird ihm zu einem eigenen Prinzip. Die Materie ist Individuationsprinzip. Alles was in Raum und Zeit existiert ist darum ein Zusammengesetztes aus Materie und Form (Hylemorphismus).
Das Aristotelische System, das bis weit in die Neuzeit bestimmend für die Philosophie war, beruht auf der Lehre von den vier Gründen, worauf der ganze Weltprozess sich aufbaut, sein Werden, seine zahllosen Gestaltungen.
Die vier Gründe des Aristoteles sind „causa efficiens und causa finalis“, auch Ursachen genannt, und „causa formalis und causa materialis“.
In der Modalität des Wirklichen zeigt sich uns alles das, was in der Zeit erscheint. Das Wirkliche ist jene Sphäre, wo causa efficiens und causa finalis bestimmend sind. Wie wir später bei der konformen Kompaktifizierung der Raumzeit und der 2T-Physik (Itzhak Bars) noch sehen werden, legt die Physik selbst die Existenz zweier verschiedener Zeiten nahe (als vierte und sechste Dimension eines höher-dimensionalen Raumzeit-Gefüges). Eine äußere (reversible) und eine innere (irreversible) Zeit beseitigen auch die ansonsten unlösbaren Probleme, die in der Physik mit der Annahme einer causa finalis einhergehen würden.
Causa formalis und causa materialis hingegen sind der Grund dafür, dass überhaupt etwas erscheinen kann. Ihnen entsprechen die Modalitäten Notwendigkeit und Möglichkeit.
1. Causa efficiens: Das ist die Begründung des Gegenwärtigen durch die Vergangenheit, Ursache im Sinne der Kausalität, auch Wirkursache genannt. Jede Ursache geht ihrer Wirkung voraus.
2. Causa finalis: Das ist die Begründung des Gegenwärtigen durch die Zukunft, auch Zweck- oder Finalursache genannt. Das Gegenwärtige wird hier bestimmt durch die mehr oder weniger bewusste Antizipation (d.h. Vorwegnahme) eines zukünftigen Zustandes (Motive).
3. Causa formalis: Das ist der Bereich der Platonischen Ideen, der Aristotelischen Form (Zweite Substanz) und der Kantischen Vernunftideen. Hier liegt der Grund, warum zeitlich verlaufende Prozesse in der Natur durch unwandelbare mathematische Gesetze beschrieben werden können.
4. Causa materialis: Die causa materialis (materia prima, Erstmaterie) ist der Grund bzw. das Medium, wodurch die Form die Möglichkeit erhält in Erscheinung zu treten. Die causa materialis ist nicht das, was Physiker üblicherweise unter Materie verstehen. Jeder Körper im Raum ist bereits geformte Materie (materia secunda, Zweitmaterie). Möchte man für die materia prima unbedingt einen ähnlichen Begriff in der Physik angeben, so könnte man sie am ehesten noch mit dem Quantenvakuum vergleichen. Die materia prima ist das zunächst vollkommen Leere und Unbestimmte, reine Möglichkeit. Sie ist der Spiegel, der all das im Inneren Verborgene, das, was noch gleichsam in unserem Rücken liegt (Platons Höhlengleichnis), die Form, die Idee, das zunächst nur potentiell Gegebene, in Wirkliches verwandelt.
Innen und Außen, Noumenon (das Geistige, Kausalität aus Freiheit) und Phänomenon (das Erscheinende, Kausalität aus Naturnotwendigkeit), das sind die großen Themengebiete der Philosophie, von denen die Naturwissenschaften nur das Außen bearbeiten.
Die Naturwissenschaften der Neuzeit haben vom System der vier Gründe des Aristoteles nur die causa efficiens (Wirkursache) übriggelassen, was nicht verwundert. Die bewusste Antizipation eines zukünftigen Zustandes kann nur dann der Grund eines Vorgangs sein, wenn der als causa finalis gedachte Zweck in einem Bereich von Möglichkeiten liegt.
In einer streng deterministischen Welt, wie es die neuzeitliche Wissenschaft anstrebt, ist für eine Sphäre der Möglichkeit kein Platz. Wenn alle Naturprozesse nach streng deterministischen Gesetzen ablaufen sollen, dann muss der zukünftige Zustand eintreten, gleichgültig ob er antizipiert wird oder nicht.
Dazu ist zu sagen, dass die Antike nicht nur die leblose Natur studiert hat, wie es die neuzeitliche Physik tut (und von ihrer Methodik her auch gar nicht anders kann), die Antike hat sich vor allem auch am Lebewesen, speziell am Menschen, orientiert. Und dass der Mensch nach Zwecken (Motiven) handelt, davon kann sich jeder leicht selbst überzeugen, wenn er darauf achtet, was sein Handeln bestimmt. Es bedarf eben einer wesentlichen Erweiterung unseres heutigen mechanistisch geprägten Weltbildes, um Freiheit und Determinismus zusammen und ohne Widerspruch denken zu können. Ein Weg, wie das mit Hilfe von entsprechender Mathematik und Physik geschehen kann, wurde bereits weiter oben angedeutet.
Auch causa formalis und causa materialis wurden schnell als lästiger Ballast über Bord geworfen. Alle nachträglichen Versuche, die Aristotelische Form wieder mittels geheimnisvoller Lebensfluide in die Naturwissenschaften zu integrieren (Neovitalismus), sind notwendig gescheitert und haben mehr geschadet als genutzt.
Trotzdem ist die causa formalis gerade in der exaktesten und objektivsten aller Naturwissenschaften, der Physik, immer schon am stärksten vertreten gewesen und diese Wissenschaft ist ohne sie überhaupt nicht möglich. Die causa formalis zeigt sich innerhalb der Physik in der Gestalt der Mathematik. Meistens nutzen Physiker die Mathematik ohne sich groß zu fragen, wie es möglich ist, dass Planeten im Raume und Atome im Kleinen mathematischen Strukturen gehorchen können, die doch eine reine Schöpfung menschlichen Denkens sind? Kant hat dazu sinngemäß Folgendes gesagt: „Die Naturwissenschaft beruht auf der Mathematik, die Mathematik auf der Logik, die Logik auf der Tätigkeit des Verstandes und dieser ist Teil des menschlichen Subjektes. Also ist die Grundlage (das Fundament) der Naturwissenschaft im Subjekt zu suchen“. Das ist die „Kopernikanische Wende“, die „Revolution der Denkungsart“, von der Kant sprach.
Es lässt sich sehr gut Wissenschaft betreiben, ohne nach den Grundlagen, den Bedingungen der Erkenntnis zu fragen, aber derjenige schaut doch tiefer, der es tut. Auch ist es für das menschliche Selbstverständnis wesentlich erfüllender, wenn er sich als geistigen Mittelpunkt eines Mikrokosmos sehen kann, anstatt eines biologischen Organismus, der mit anderen milliarden Organismen um eine relativ unbedeutende Sonne am Rande der Galaxis kreist, die selbst nur eine unter milliarden Galaxien ist.
Für die Stoiker der Antike hat der Weltenlogos ein zweifaches Antlitz. Er manifestiert sich sowohl im Außen als ein schöpferisches Prinzip, das den Makrokosmos hervorbringt und gestaltet, als auch im Inneren eines Lebewesens als „Gesetzmäßigkeit des Denkens“ und als „Norm des Handelns“. Diese Identität ist nach stoischer Lehre dadurch garantiert, dass der Mensch einen Funken des Logos in seiner Seele trägt, welcher sich als Vernunft äußert. Darum wird der Mensch auch ein (seinen Möglichkeiten nach potentieller) Mikrokosmos genannt.
Das ist der Grund, warum wahre Ethik nur im Inneren des Menschen, in seiner eigenen Vernunft zu finden ist, und äußere von Institutionen festgelegte Normen des Handelns nur Not- und Übergangslösungen darstellen. Ebenso kann der Weg der Erkenntnis nur ein Weg der Reflexion sein, ein Rückbeziehen allen Wahrnehmens und Erkennens auf die sich in der Vernunft manifestierenden Wahrheit.
Darum untersucht Kant die Vernunft auch in zweifacher Hinsicht: als theoretische Vernunft (Was kann ich Wissen?) und als praktische Vernunft (Was soll ich tun?).
Zur Fortsetzung: Horizonte 6 – Teil B 〉〉〉