Die Bewusstseins-Pyramide
Die einzelnen Stufen dieser Pyramide (die verschiedenen Erkenntnisarten, d.h. Perspektiven mit ihren Standpunkten und Horizonten) lauten in Anlehnung an Kant: Sinn, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft und Apperzeption.
Sinn (sinnliche Anschauung)
Synthesis: durch Apprehension (das ist die sukzessive, bloß anschauliche Zusammensetzung eines Mannigfaltigen)
Materie: invariante Bewusstseins-Strukturen bezüglich der sinnlichen Anschauung. Aus diesen bilden sich durch die Synthesis der Apprehension erste Vorstellungen, das ist die reine und empirische Materie auf der Stufe der sinnlichen Anschauung, der Anblick eines Einzelnen.
Horizont: die transzendentale Raumzeit. Diese gliedert sich in die Einzelhorizonte Raum und Zeit = Formen der sinnlichen Anschauung.
Einbildungskraft (allgemeine Anschauung)
Synthesis: durch Reproduktion (Wiederherstellung)
Materie: die reinen und empirischen Schemata, das ist die reine und empirische Materie auf der Stufe der Einbildungskraft, der Anblick eines Allgemeinen
Horizont: das transzendentale Gedächtnis. Dieses gliedert sich in die Einzelhorizonte der transzendentalen Schemata = Formen der Einbildungskraft = Zeitgestalten.
Verstand (formale Anschauung)
Synthesis: durch Rekognition (Wiedererkennen), verbindet die Begriffe nach Regeln (Urteile)
Materie: reine und empirische Begriffe des Verstandes
Horizont: die transzendentale Logik. Diese gliedert sich in die Einzelhorizonte der Kategorien = Formen des Verstandes.
Vernunft (intellektuelle Anschauung?)
Synthesis: durch Anamnesis (erkennende Wiedererinnerung), Einheit der Verstandesregeln aus Prinzipien
Materie: Ideen, Grundsätze (z.B. die Grundsätze des reinen Verstandes), Prinzipien …
Horizont: die transzendentale Identität. Diese gliedert sich in die Einzelhorizonte der transzendentalen Ideen = Formen der Vernunft.
Apperzeption (Selbst-Anschauung) Die transzendentale Apperzeption ist der höchste Standpunkt, das „Ich bin“, das „Bewusstsein meiner selbst, das all meine Vorstellungen begleiten muss“. „Und so ist die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst.“ Kant, Kritik der reinen Vernunft (KdrV)
Die transzendentale Apperzeption ist nicht, wie das Ende des letzten Zitates vielleicht suggerieren mag, ohne weiteres mit dem Verstande identisch, da sie als ein „Bewusstsein überhaupt“ sowohl Sinn, Einbildungskraft, als auch Verstand und Vernunft umfasst. Sie ist als ein „Bewusstsein überhaupt“ auch ein „Vermögen der Synthesis überhaupt“ und zeigt sich auf den unterschiedlichen Erkenntnisstufen, nur im unterschiedlichen Gewande der Apprehension, Reproduktion und Rekognition. Es ist „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“ (KdrV), das schon auf der Stufe der sinnlichen Anschauung in all meinen verschiedenen Vorstellungen anwesend sein muss (es sind dies ja alles meine Vorstellungen). Durch Abstraktion (Weglassen des Besonderen und Zufälligen und Herausheben des Allgemeinen und Notwendigen) wird schrittweise dieses „Ich bin“ als ein Gemeinsames (Verbindendes) auf den verschiedenen Stufen des Bewusstseins herausgehoben und bildet dort das jeweilige Vermögen der Synthesis.
Bevor die Stufen der Bewusstseins-Pyramide im Einzelnen besprochen werden, noch eine Textstelle aus der KdrV, die besonders deutlich den perspektivischen Grundcharakter der Transzendental-Philosophie zeigt:
„Ich behaupte demnach: die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, daß man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d.i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.“ (KdrV)
So konzipiert Kant die Ideen der Vernunft als Fluchtpunkte auf Horizontlinien des Denkens.
Sinn (sinnliche Anschauung: akustische, optische …)
Auf dieser Stufe des Bewusstseins sind Raum und Zeit die Horizonte der sinnlichen Anschauung, d.h. Formen der Anschauung.
Entsprechend der zwei Horizonte gibt es eine äußere und eine innere Anschauung. Vermittels der äußeren Anschauung stellen wir uns Gegenstände außen im Raume vor; vermittels der inneren Anschauung schaut das Gemüt sich selbst, seinen inneren Zustand an. Durch die innere Anschauung, deren Form die Zeit ist, bekommen alle Vorstellungen die zeitliche Ordnung des Vorher, Nachher oder Zugleich.
Kant unterscheidet zudem eine reine Anschauung (reine Materie der sinnlichen Anschauung) und eine empirische Anschauung (empirische Materie der sinnlichen Anschauung):
„Sinnliche Anschauung ist entweder reine Anschauung (Raum und Zeit) oder empirische Anschauung desjenigen, was im Raum und der Zeit unmittelbar als wirklich, durch Empfindung, vorgestellt wird. Durch Bestimmung der ersteren können wir Erkenntnisse a priori, von Gegenständen (in der Mathematik) bekommen, aber nur ihrer Form nach, als Erscheinungen; ob es Dinge geben könne, die in dieser Form angeschaut werden müssen, bleibt doch dabei noch unausgemacht.“ (KdrV)
Bei allem was über Form und Materie gesagt wird muss immer mitbedacht werden, dass es sich hierbei um erkenntnistheoretische Begriffe handelt. Kant untersucht in der KdrV nicht, wie Gegenstände an sich beschaffen sein mögen, sondern allein unsere Bewusstseinsstruktur und damit die Invarianten von Perspektiven. In der Physik der Elementarteilchen geschieht etwas ganz Ähnliches. Elementarteilchen werden dort durch die Invarianten von Symmetriegruppen (spezielle Transformationen) beschrieben, und wie weiter oben schon erwähnt sind damit ein Beobachter und seine Perspektiven (Bewusstseinsstrukturen) verbunden. Aber das wird in Zukunft noch genauer ausgeführt werden.
Die nächste Stufe der Bewusstseins-Pyramide ist jetzt die
Einbildungskraft (Imagination, Phantasie)
Diese teilt sich in eine produktive und eine reproduktive Einbildungskraft. Die Einbildungskraft übt durch Schematabildung eine Scharnier-Funktion zwischen den in den Sinnen gegebenen Einzelanschauungen und den Begriffen des Verstandes aus.
Die Einbildungskraft speichert das in der sinnlichen Anschauung Gegebene als Bilder im Gedächtnis und ruft diese, bei Bedarf, durch Reproduktion (Wiederherstellung) auch wieder ab (wir erinnern uns). Das Vergessen wird oft als etwas Negatives gesehen, es hat aber auch seine positiven Seiten: Das Bewusstsein nimmt zunächst verschiedene Erscheinungen in der Natur wahr und speichert diese ganz automatisch, geordnet und verknüpft durch Affinität, in seinem Gedächtnis. Die genauen Einzelheiten und Zufälligkeiten wird es im Laufe der Zeit vergessen. Dieses Vergessen der Details ist aber zugleich ein (unbewusster) Abstraktionsprozess. Die speziellen und eher zufälligen Einzelheiten werden durch Vergessen gelöscht und das Gemeinsame und Regelmäßige, das was in allen beobachteten Erscheinungen mal mehr, mal weniger anwesend ist, verstärkt und in der Erinnerung als ein Allgemeines, als ein Schema bzw. als eine Regel herausgehoben. So wird mittels des Gedächtnisses aus dem Fluss des Veränderlichen, durch Vergessen und Erinnern, das Invariante, Konstante und Unveränderliche herausgefiltert. Aber auch in der Mathematik, die ihren Quell in der reinen, inneren Anschauung hat, würde man ohne Gedächtnis nicht weit kommen.
Kann vom Standpunkt der Sinnlichkeit aus, das in der Anschauung Gegebene mittels der Zeit (als ein Horizont der inneren Anschauung) nur in einem einfachen zeitlichen Vorher, Nachher oder Zugleich geordnet werden, so erlaubt der Standpunkt der Einbildungskraft eine wesentlich differenziertere Zeitbestimmung. Das transzendentale Gedächtnis, welches der Horizont der Einbildungskraft ist, gliedert sich in zwölf transzendentale Schemata. Das transzendentale Schema ist eine universelle Bewusstseins-Struktur a priori, welche es ermöglicht, das in der sinnlichen Anschauung Gegebene (sei es empirisch oder rein) nach zeitlichen Schemata (Zeitgestalten) zu ordnen und zu verbinden.
Die 4×3=12 transzendentalen Schemata sind:
1. Zeitreihe: 1.1 Element des Zählens – 1.2 Sukzession des Zählens – 1.3 Limit/Raum des Zählens
2. Zeitinhalt: 2.1 erfüllte Zeit – 2.2 leere Zeit – 2.3 Übergang von Realität zur Negation und vice versa
3. Zeitordnung: 3.1 Beharrlichkeit des Realen in der Zeit – 3.2 Sukzession des Mannigfaltigen, insofern sie einer Regel unterworfen ist – 3.3 Zugleichsein der Bestimmungen der Einen (Substanz), mit denen der Anderen (Substanz), nach einer allgemeinen Regel
4. Zeitinbegriff: 4.1 Bestimmung der Vorstellung eines Dinges zu irgendeiner Zeit – 4.2 Dasein (eines Gegenstandes) in einer bestimmten Zeit – 4.3 Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit
Nehmen wir z.B. aus der Zeitordnung die „Beharrlichkeit des Realen in der Zeit“. Erst durch ein Gedächtnis ist es möglich, aus dem ständigen Fluss der Veränderung so etwas wie Beharrlichkeit, d.h. etwas sich Gleichbleibendes, Unveränderliches zu isolieren und herauszuheben. Darauf aufbauend leitet sich auf der Stufe der Vernunft der Grundsatz* der I. Analogie her: „Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert.“ (KdrV)
Dasselbe gilt für die „Sukzession des Mannigfaltigen, insofern sie einer Regel unterworfen ist“. Die Sukzession Vorher-Nachher gab es auch schon auf der Stufe der sinnlichen Anschauung. Aber erst mit Hilfe des Gedächtnisses ist es möglich, eine Regelhaftigkeit in der Sukzession zu erkennen und herauszuheben. Darauf aufbauend leitet sich der Grundsatz der II. Analogie her: „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung“. (KdrV)
Auch beim „Zugleichsein der Bestimmungen der Einen (Substanz), mit denen der Anderen (Substanz), nach einer allgemeinen Regel“ gilt das oben Gesagte. Der Grundsatz der III. Analogie lautet: „Alle Substanzen, sofern sie im Raume, als zugleich wahrgenommen werden können, sind in durchgängiger Wechselwirkung“. (KdrV)
Vermittels der drei transzendentalen Schemata der Zeitordnung kann die reproduktive Einbildungskraft die Materie der empirischen Anschauung unter die Bedingungen der Begriffe des Verstandes bringen und ermöglicht so empirische Erkenntnis bzw. Erfahrung, d.h. „synthetische Urteile a posteriori“; das sind Urteile, die unser Wissen durch äußere Anschauung erweitern.
Hingegen werden durch die produktive Einbildungskraft und die drei transzendentalen Schemata der Zeitreihe die reinen Anschauungen (Raum und Zeit) unter die Bedingungen der reinen Verstandesbegriffe gebracht. Das ermöglicht z.B. Mathematik, d.h. „synthetische Urteile a priori“, das sind Urteile, die unser Wissen durch innere Anschauung erweitern.
Aus empirischer Erkenntnis bzw. Erfahrung wird zudem erst dann eine exakte, objektive Naturwissenschaft (wie die Physik), wenn diese zusätzlich mit Hilfe der produktiven Einbildungskraft mathematisiert wird.
Verstand
Die Logik ist der Horizont des Verstandes und gliedert sich in die vier Formen des Verstandes. Das sind die Kategorien der Quantität, Qualität, Relation und Modalität, die jeweils wieder aus drei Unterabteilungen bestehen. Sie umschließen als 4×3=12 Horizonte die reinen und empirischen Verstandesbegriffe und ermöglichen es, diese mittels Rekognition (Wiedererkennen) nach Regeln a priori zu verbinden; die Kategorien sind diese Regeln (Urteilsformen). Solche erfahrungsfreie Urteilsformen werden durch Sprachanalyse aufgefunden, indem von jedem konkreten Inhalt abstrahiert und nur auf die Form des Urteilens geachtet wird. Das hat vor Kant im wesentlichen schon Aristoteles geleistet und damit die eigentliche Logik begründet.
Auf der Stufe der sinnlichen Anschauung sind Raum und Zeit Formen der Anschauung, d.h. Bedingungen der Möglichkeit der sinnlichen Anschauung, d.h. universelle Bewusstseinsstrukturen a priori. Auf dieser Stufe des Bewusstseins existieren zunächst weder euklidische, noch irgendwelche gekrümmten Räume. Erst auf der Stufe des Verstandes ist eine formale Anschauung des Raumes gegeben, das heißt, wird der Raum zu einem Gegenstand (reine Materie) der Anschauung, zu einem geometrischen Raum, und ist nicht mehr, wie auf der Stufe der sinnlichen Anschauung, ein Horizont der Anschauung, sondern die mathematische Konstruktion (d.h. einen Begriff in der reinen Anschauung konstruieren) eines verstandesbegabten Bewusstseins.
Vernunft
„Vernunftbegriffe dienen zum Begreifen, wie Verstandesbegriffe zum Verstehen (der Wahrnehmungen). Wenn sie das Unbedingte enthalten, so betreffen sie etwas, worunter alle Erfahrung gehört, welches selbst aber niemals ein Gegenstand der Erfahrung ist […]“ (KdrV)
So wie die Kategorien sich aus der bloßen Form der Urteile des Verstandes ergeben, so leitet Kant die transzendentalen Ideen aus der Form der Vernunftschlüsse (die kategorisch, hypothetisch und disjunktiv sein können) her. Die drei transzendentalen Ideen der theoretischen Vernunft sind (KdrV):
„die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts“ (Seele),
„die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung“ (Welt),
„die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt“ (Gott).
In erkenntnistheoretischer Hinsicht sind die Vernunftideen für Kant nur noch regulative Prinzipien, ein „als ob“, welche die Verstandestätigkeit ordnen und zur größtmöglichen Einheit führen sollen, d.h. Fluchtpunkte auf Horizontlinien des Denkens.
Ausblick
Die Stufen der Synthesis, die ihren gemeinsamen Ursprung in der Apperzeption (Bewusstsein seiner selbst) haben, lauteten:
1.Zusammensetzung (Apprehension), 2.Wiederherstellung (Reproduktion), 3.Wiedererkennen (Rekognition) und warum nicht auch 4. eine erkennende Wiedererinnerung (Anamnesis) auf der Stufe der Vernunft, so wie Platon es gesehen hat? Kant lehnt eine dafür notwendige „intellektuelle Anschauung“ ab, schließt deren Möglichkeit aber auch nicht ganz aus. Fichte, Schelling und Hegel werden in seiner Nachfolge die intellektuelle Anschauung (in Anlehnung an Platon, Aristoteles und Plotin) wieder in ihre Systeme aufnehmen.
Auch für eine Mathematisierung der Metaphysik sieht Kant keine Möglichkeit und spricht ihr damit einen ähnlichen sicheren Gang in den Wissenschaften wie der Mathematik oder Physik ab. Nur auf dem Gebiet der Praktischen Philosophie (der Welt der Motive, dem „was soll ich tun“) und seinem Moralischen Gesetz glaubt er, eine neue Metaphysik auf halbwegs sicherem Boden errichten zu können.
Diesen Weg werden wir aber vorerst nicht weiter verfolgen, sondern als Nächstes zeigen, dass aufgrund der großen Fortschritte in Mathematik und Physik, und der Deutung der Transzendental-Philosophie als eine Philosophie der „Perspektiven und ihrer Horizonte“, eine Mathematisierung der Metaphysik (als eine reine Erkenntnis a priori) doch möglich ist. Um nur eine der vielen neuen und überraschenden Einsichten, die sich daraus ergeben werden, vorab zu nennen, sei auf die sehr wahrscheinliche Existenz eines Weltgedächtnisses und seine tragenden Rolle für die Evolution des Kosmos hingewiesen. Ein solches Weltgedächtnis deutet sich ja bereits durch die verschiedenen Synthese-Vermögen des Bewusstseins an: Zusammensetzung, Wiederherstellung, Wiedererkennen und erkennende Wiedererinnerung.
* Das ist: wie man eine Kategorie des Verstandes auf Erscheinungen anwendet
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