Wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen und erleben, ist das Ergebnis eines Jahrtausende währenden Erkenntnisprozesses menschlichen Bewusstseins. Ein wesentlicher Aspekt des menschlichen Bewusstseins ist dabei die räumliche Wahrnehmung. Allein in den letzten Jahrhunderten hat sich unsere Vorstellung vom Raum immer wieder grundlegend verändert und damit auch unser bewusstes Erleben der Welt. Die Geschichte der Entdeckung des Raumes ist gleichzeitig eine Geschichte des Bewusstseins. Vieles deutet darauf hin, dass eines Tages die entscheidende Rolle für unser Verständnis von Materie und Bewusstsein einem höherdimensionalen Raum zukommen wird: dem Hyperraum, und zwar aufgrund seines vereinheitlichenden Charakters.
Wir neigen manchmal dazu, über die Weltanschauung früherer Generationen abfällig zu urteilen. Dabei vergessen wir, dass unser heutiges empirisches, aus Erfahrung gewonnenes Weltbild auch nur eine vorübergehende Sicht der Wirklichkeit ist, über die vielleicht zukünftige Generationen ebenso lächeln werden. Die Entwicklung des Bewusstseins und damit die Erkenntnisfähigkeit des Menschen steht nicht am Ende sondern am Anfang einer Reise. Die Zukunft hält Möglichkeiten verborgen, von denen heute noch niemand etwas ahnt.
Raum und Bewusstsein im Mittelalter – Der Sphärenraum
Das Raumkonzept des Mittelalters geht im Wesentlichen auf das der Antike zurück (Platon, Aristoteles und Ptolemäus) und wurde der Bibel angepasst.
Nach der geozentrischen Kosmologie des Mittelalters stand die Erdkugel unbeweglich im Mittelpunkt des Kosmos, und um die Erde kreisten unsichtbare Kugelschalen, die Sphären, auf denen die Planeten befestigt waren. Der mittelalterliche Kosmos wurde in die „vergängliche Welt“ (die sublunare Welt, die Welt unterhalb der Mondsphäre) und in die „ewige Welt“ (die himmlischen Sphären, die Welt oberhalb der Mondsphäre) unterteilt.
Die zeitliche, dem Wandel unterworfene sublunare Welt der Menschen bestand aus 4 Sphären: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Die ewige, himmlische Welt war die Sphäre der Planeten, wurde durch die Fixsternsphäre abgeschlossen, und bestand aus einem unwandelbaren und ewigen fünften Element, der Quintessenz (auch Äther genannt). Aus der Bibel wurde die Existenz zweier weiterer Sphären gefolgert: Die Kristallsphäre, die als Sitz der Seligen und Heiligen galt, und das Empyreum, Sitz Gottes und der Engel.
Diese mittelalterliche Raumauffassung fand ihren wohl bekanntesten literarischen Ausdruck in Die Göttliche Komödie (La Divina Commedia) des florentinischen Dichters Dante Alighieri (1265-1321). Die darin beschriebene Reise durch den Raum der Sphären macht deutlich, dass es aus mittelalterlicher theologischer Sicht nur ein einziges Ziel für die Seele gab: die himmlischen Sphären empor zu steigen.
Im Mittelalter waren die Dinge, so wie sie waren, gottgewollt, und dieser kirchlich-göttlichen Ordnung war durch des Menschen Handlung genüge zu tun. Es bestand keine Möglichkeit, durch freies, selbstbestimmtes Handeln neue Entwicklungswege zu suchen und zu gestalten. Der Mensch dieser Epoche lebte ein mühevolles Leben auf Erden, unter seinen Füßen drohte die Hölle mit ewiger Verdammnis, und über ihm beobachtete Gott sein Tun.
Die Renaissance – Geburt eines neuen Raumes
Die Bildende Kunst des Mittelalters diente meistens nur der Illustration biblischer Themen oder wichtiger Ereignisse wie Vertragsabschlüsse und Krönungen. Menschen und Dinge wurden dabei in ihrer Ordnung und Wichtigkeit bezüglich Gott und der Kirche dargestellt: Bauern und Leibeigene klein, Fürsten und Heilige groß. Die Figuren wurden zweidimensional gezeichnet und völlig unperspektivisch und collagenartig angeordnet.
Das änderte sich im Zeitalter der Renaissance (etwa 1420 bis 1600). Das heutige Europa mit all seinen Eroberungen und Errungenschaften wäre ohne jene Erfindung des florentinischen Bildhauers und Baumeisters Filippo Brunelleschi (1377-1446) wohl niemals zustande gekommen: die Zentralperspektive – ein Konstruktionsschema, mit dessen Hilfe erstmals Bilder entstanden, die in ihrer Räumlichkeit an heutige Fotos erinnern. Brunelleschi betrachtete Motive, die er malen wollte, in einem Spiegel, was ihm die Möglichkeit gab, die Größenverhältnisse mit Zirkel und Lineal abzumessen. Daraus leitete er zwei Axiome der zentralperspektivischen Malerei her: einen Fluchtpunkt hinter dem Horizont, auf den alles zuläuft, und die Proportionsregeln der Größe für sich entfernende Gegenstände.
Der Florentiner Künstler Leon Battista Alberti (1404-1472) formulierte sodann die Zentralperspektive als „Theorie des Malens“. In seinem Traktat De Pictura (Die Malkunst, 1435/1436) wurde die Malerei auf eine wissenschaftliche Basis gestellt. Im ersten Buch geht es um die Geometrie des Euklid, die Optik und deren Anwendung in der Malerei, im zweiten und dritten Buch um die handwerklichen und geistigen Fähigkeiten des Malers. Oberstes Ziel der Malkunst ist nach Alberti die Wirkung des Gemäldes auf den Betrachter. Die anschauliche Darstellung von Affekten soll im Betrachter bestimmte Gemütsbewegungen, sinnliche Empfindungen und geistige Erkenntnisse auslösen. Unerschöpfliche Quelle und Vorbild für den Künstler soll die Natur sein.
So schrieb Leonardo da Vinci (1452-1519), ein anderer Großer der Renaissance: „Der Maler muss einsam sein und nachdenken über das, was er sieht, und mit sich selbst Zwiesprache halten, indem er die vorzüglichsten Teile aller Dinge, die er erblickt, auswählt; er soll sich verhalten gleich einem Spiegel, der sich in alle Farben verwandelt, welche die ihm gegenübergestellten Dinge aufweisen. Und wenn er so tut, wird er wie eine zweite Natur sein.“
Der Mensch wird auf diese Weise zum Wissensgefäß, das von der Wahrheit der objektiven Welt erfüllt wird, diese aufnimmt und als zweite Natur speichert. Mit der Konstruktion der zweiten Natur – dem Grundschema der Naturwissenschaft – hebt sich das Subjekt aus der Welt der Objekte heraus und stellt sich ihr gegenüber. Erkenntnis der Welt ist von jetzt an kein Deuten mehr, sondern ein Nachkonstruieren der Welt.
Die Zentralperspektive der Renaissance will die Natur so darstellen wie sie in Wirklichkeit ist. Dieses Bemühen beabsichtigt aber nicht eine bloße Imitation der Realität, sondern gleichzeitig die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten, die der Natur zugrunde liegen.
Auch die damalige Vorstellung von Schönheit und Vollkommenheit ist getragen von einem mathematisch orientierten Rationalismus. Nach Leon Battista Alberti beruht Schönheit auf bestimmten gesetzmäßigen Übereinstimmungen aller Teile untereinander und mit dem Ganzen, sodass man weder etwas hinzufügen, wegnehmen oder im Zusammenhang verändern kann, ohne sie zu beinträchtigen. In den Bildern der Zentralperspektive wird die „Summa“ der Natur gesucht und die Vergeistigung des Stofflichen erstrebt. Die Renaissance ist mit allem Nachdruck bemüht, die Realität zu erfassen, um sie dann doch wieder idealisierend zu überhöhen.
Erst mit der Zentralperspektive begannen Maler wirklich das zu malen, was sie sahen; vorher hingegen malten sie, wie sie sich die Welt in ihrer göttlichen Ordnung vorstellten.
In der Zentralperspektive werden die Objekte aus dem Blickwinkel des menschlichen Auges gemalt. Die Welt erscheint jetzt auf das menschliche Ich hin geordnet und nicht mehr auf Gott. Diese anthropozentrische Grundhaltung der Renaissance macht den Menschen zum „Maß aller Dinge“. In der Renaissance wird sich der Mensch erstmals seiner selbst und seiner Perspektivität bewusst: Die Dinge sind nicht mehr prinzipiell so und so geordnet, sondern je nach Blickwinkel kann alles vollkommen anders aussehen.
Albrecht Dürer (1471-1528) schrieb: „Item Perspectiva ist ein lateinisch Wort, bedeutt ein Durchsehung.“
Die Zentralperspektive sieht durch ein geometrisch-mathematisches „Theorie-Fenster“ auf die Wirklichkeit und wird so zur Wegbereiterin der modernen Naturwissenschaft. Durch die Konstruktion der Perspektive wird die Homogenität, Unendlichkeit und Leere eines neuen physikalischen Raumes bewusst, von dem das unmittelbare Erlebnis des Raumes nichts weiß. Die Möglichkeit, der Welt ein geometrisches Schema aufzuerlegen, wird erst mit der Geometrisierung der Welt erkannt. Durch die mathematische Rasterung in der Perspektive wird die technische Nutzbarmachung der Naturgesetze ermöglicht. Der Mensch macht sich die Erde untertan, ist nicht mehr Teil der Welt, sondern ein über ihr stehender Herrscher.
Durch perspektivisches Durchkomponieren ihrer Bilder auf einen Fluchtpunkt hin, aber auch durch andere Darstellungselemente, wie Verschwimmen in der Ferne oder ziehend wirkendes tiefes Blau, weckte die Renaissancemalerei die Sehnsucht nach der Ferne.
Christoph Kolumbus entdeckt auf dem Weg nach Indien 1492 Amerika, und eine lang anhaltende Unterwerfung und Auslöschung von Kulturen kolonisierter Gebiete beginnt.
Der neue Blick des Menschen richtet sich jetzt auch hinauf zu den Sternen und entdeckt den Weltraum.
Nikolaus Kopernikus (1473-1543) wird zum Begründer des heliozentrischen Weltbildes, wonach Erde und Planeten um die Sonne kreisen.
Giordano Bruno (1548-1600) nimmt das heliozentrische Weltbild des Kopernikus auf, lässt aber die von diesem angenommene, das Weltall begrenzende Fixsternsphäre fallen und formuliert den Gedanken der Unendlichkeit des Universums. Dieses besteht aus einer unendlichen Anzahl anderer Welten, die genau so bewohnt sein könnten wie die Erde. Giordano Bruno wurde im Jahre 1600 als Ketzer in Rom verurteilt und auf dem Scheiterhaufen hingerichtet.
Der Raum gewinnt im zentralperspektivischen Bild erstmals seine Einheit als homogener und nach allen Seiten hin offener Raum. Die Entdeckung des physikalischen Raumes bringt eine Befreiung in Form neuer Erfahrungen: der Raum, der zuvor verschlossene Möglichkeiten herstellt, muss nun als unendlich angenommen werden. Der inhomogene, endliche, nichtleere Sphärenraum des Mittelalters gerät ins Wanken und zeigt erste Risse.
Durch René Descartes (1596-1650) wird der neu entdeckte Raum endgültig von allen subjektiven Beimischungen befreit und findet schließlich seine wissenschaftliche Heimat im mechanistischen Weltbild Isaac Newtons (1643-1727) als „absoluter Raum“. In diesem von jeglichem Geschehen unbeeinflussten, unendlich großen und leeren Raum bewegt sich die Materie durch Druck, Stoß und Gravitation. Das Universum ist zum mechanischen Uhrwerk geworden und Gott zu seinem Uhrmacher. In dieser entzauberten Welt haben die Dinge ihre metaphysische Bedeutung verloren. Waren in der Zentralperspektive Objekt und Subjekt noch gleichberechtigt im Raum und durch die Sehpyramide verbunden, findet sich im neuen absoluten Raum des mechanistischen Weltbildes kein Platz mehr für das Ich. Die Naturwissenschaft hat die Welt jetzt vollkommen verobjektiviert. Erst in Einsteins spezieller Relativitätstheorie und der Welt der Quanten wird das beobachtende Subjekt wieder seinen Platz einfordern.
Bernhard Riemann – Entdecker des Hyperraums
Als Johann Carl Friedrich Gauß (1777-1855) seinen Studenten Bernhard Riemann (1826-1866) aufforderte, einen Vortrag über die „Grundlagen der Geometrie“ vorzubereiten, ahnte noch niemand, dass dies das Ende der Vormachtstellung der Euklidischen Geometrie bedeutete.
Die Euklidische Geometrie ist jene Geometrie, welche Euklid (ca. 365-300 v. Chr.) in dem aus 13 Büchern bestehenden Lehrbuch Die Elemente (im Original Stoicheia) dargestellt hat. Die Elemente war bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts das nach der Bibel meist verbreitete Werk der Weltliteratur. Die prächtigen Kathedralen Europas und die Zentralperspektive der Renaissance wurden nach diesen Gesetzen konstruiert. Auch der absolute Raum des Isaac Newton ist ein euklidischer Raum.
Die Euklidische Geometrie ist die uns vertraute Geometrie der Punkte, Linien und Ebenen in einem 3-dimensionalen Raum. Für Riemann war Euklids Geometrie zu steril, um die ganze Formenvielfalt der Natur adäquat beschreiben zu können. Nirgendwo in der natürlichen Welt sah man die geraden, flachen und idealisierten Figuren des Euklid. Wolken, Wasserwellen, Wirbel und Gebirge sind keine Dreiecke, Quadrate oder Kreise, sondern gekrümmte Objekte, die sich in unendlicher Vielfalt verdrehen und biegen.
Die Zeit war reif für eine Revolution. Am 10. Juni 1854 hielt Riemann den Vortrag Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen und durchbrach die engen Mauern der Euklidischen Geometrie, die bisher zweitausend Jahre lang allen Angriffen standgehalten hatten. Darin zeigte er, dass die Euklidische Geometrie nur ein Spezialfall einer viel umfassenderen Geometrie ist. Diese neue Geometrie, die Riemannsche Geometrie, ist eine allgemeine Theorie höherdimensionaler gekrümmter Räume, und der 3-dimensionale euklidische Raum ist nur ein darin enthaltener Spezialfall. Bernhard Riemanns Entdeckung des Hyperraums war äußerst folgenreich für die Zukunft von Kunst, Wissenschaft und Technik:
Drei Jahrzehnte nach seinem Habilitationsvortrag macht die „geheimnisvolle vierte Dimension“ ihren Einfluss auf die Kunst, Philosophie und Literatur Europas geltend.
60 Jahre später beschreibt Albert Einstein mit Hilfe der 4-dimensionalen Riemannschen Geometrie die Entstehung und Entwicklung des Universums.
Heute versuchen Physiker mit einer 11-dimensionalen Geometrie alle Gesetzte des physikalischen Universums zu vereinigen.
Kernstück der Riemannschen Arbeit ist die Erkenntnis, dass Dinge, die in unserem 3-dimensionalen Raum getrennt und zusammenhanglos erscheinen, in einem höherdimensionalen Raum ihre natürliche Einheit finden. So wird das Universum abermals zu einer „Höhle“, in welche die „Schatten“ einer höheren Wirklichkeit fallen, wie es einst im Höhlengleichnis Platons beschrieben wurde.
Dieser Gedankengang wird im Lexikonpunkt: Hyperraum 1 〉〉〉 fortgesetzt