Horizonte 5 – Teil A (Takimo 23)

Das perspektivische Universum – Ein Selbstgespräch – Teil A

Frage: Warum die Form eines Selbstgespräches?

Antwort: Es verhindert lange Vorträge, die schnell etwas belehrend wirken können.

Frage: Ist es richtig, dass zwei Personen diese Lexikoneinträge schreiben?

Antwort: Ja, aber wir sprechen hier mit einer Stimme.

Frage: Aber sich selbst Fragen zu stellen und darauf zu antworten, ist das nicht etwas merkwürdig? In einem Interview stellt doch immer jemand anderes die Fragen.

Antwort: Hier handelt es sich auch nicht um ein Interview, sondern um ein Selbstgespräch, das in eine ganz bestimmte Richtung gehen soll.

Frage: Und in welche?

Antwort: Der große Traum der Physik ist eine einheitliche Theorie aller Naturkräfte. Der Grund für das bisherige Scheitern liegt dabei höchstwahrscheinlich in einer Art Selbstblockade.

Frage: Ein Fall für den Psychoanalytiker also?

Antwort: Nicht ganz so schlimm. Da die Physik Anspruch auf höchste Objektivität erhebt, war ihr der sogenannte Beobachter, wie er sich zum Beispiel überdeutlich in quantenphysikalischen Experimenten zeigt, schon immer ein Dorn im Auge. Unserer Meinung nach muss der Rahmen der Wirklichkeitsbeschreibung aber so erweitert werden, dass darin auch der Beobachter seinen ihm gebührenden Platz erhält.

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Der Zeichner der Laute von Albrecht Dürer (1525). Der Holzschnitt zeigt eine Vorrichtung zum Erstellen zentralperspektivischer Bilder.
Der Blick durch „Albertis Fenster“: Perspektive (von lat. perspicere, hindurchsehen) als symbolische Form (Erwin Panofsky). Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Technik, Wissenschaft, Geschichte als verschiedene symbolische Formen der einen Realität (Ernst Cassirer)

Frage: Eine einheitliche Theorie von Materie und Bewusstsein?

Antwort: Wenn man es so formulieren möchte. Neue Metaphysik oder Theorie der objektiven Subjektivität wären auch Optionen. Aber das sind zunächst nur unnütze Wortspielereien, die höchstens verwirren.

Frage: Klingt das nicht allzu sehr nach Esoterik und Pseudowissenschaft?

Antwort: Im ersten Moment vielleicht ja, und die Gefahr, den Applaus aus der falschen Ecke zu bekommen, ist bei solchen Unternehmungen immer groß. Diese Bedenken auszuräumen, ist das Anliegen der folgenden Zeilen.

Frage: Was wird uns erwarten? Eine hochkomplizierte Theorie, die außer ihrem Schöpfer niemand versteht? Oder gar eine Art neue Religion?

Antwort: Nichts von alledem. Die letzten zweieinhalb Jahrtausende haben eine fast nicht mehr zu überschauende Fülle an gedanklichen Konstruktionen hervorgebracht. Diesem riesigen Bestand an Ideen muss nicht unbedingt noch eine weitere eigene philosophische oder naturwissenschaftliche Theorie hinzugefügt werden.

Frage: Sondern?

Antwort: Es ist wie mit einem Fahrzeug, dessen Einzelteile soweit verstreut herumliegen, dass niemand bemerkt, dass das Fahrzeug, nach dem alle suchen, schon längst existiert. Um diese Teile zu finden, ist allerdings eine ausgedehnte Wanderung durch die oft unwegsamen Gebiete von Philosophie, Mathematik und den Naturwissenschaften, speziell der Physik, notwendig. Man braucht eigentlich nur die richtigen Einzelteile zu finden und zusammenzusetzen, um ein funktionsfähiges Fahrzeug zu erhalten.

Frage: Warum der Vergleich mit einem Fahrzeug?

Antwort: Weil eine solch exakte Theorie des Bewusstseins, wie sie vorgestellt werden soll, keine fertige Theorie sein kann, sondern hier vielmehr nur Hinweise zur Grundlegung einer solchen gegeben werden können. Eine derartige Theorie wird anfänglich wohl mit ruckelndem Motor losfahren, aber wenn der Versuch gelingt, wird sie uns in unbekannte Länder führen und einen neuen Blick auf die Realität erlauben.

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Platons Höhlengleichnis in einem Kupferstich von Jan Saenredam (1604)

Frage: Nun gut, dann wollen wir erstmal etwas Vertrauensvorschuss gewähren und die Reise beginnen. Meine erste Frage zur Einstimmung: Glauben Sie an einen Gott?

Antwort: Gleich am Anfang eine so belastete Frage? Das Wort Gott ist einer der meist malträtierten Begriffe der Geschichte. Aber na gut … machen wir es kurz und schmerzlos. Ja ich glaube an einen Gott.

Frage: Aha, und an welchen? Ist es der Gott der Christen oder der Muslime oder etwas aus dem asiatischen Raum?

Antwort: Weder noch.

Frage: Was dann?

Antwort: Es ist der Gott der Philosophen.

Frage: Wer ist das?

Antwort: Gott ist kein Wer, keine Person. Eigentlich ist jeder Versuch, über den Begriff Gott etwas Konkretes aussagen zu wollen, von vornherein zum Scheitern verurteilt und richtet meistens mehr Schaden an, als dass es etwas nützt.

Frage: Will sich da jemand aus der Affäre ziehen?

Antwort: Nein … vielleicht ein wenig … also nun gut: Für mich persönlich ist die beste Definition von Gott immer noch Plotins „to hen“ (das Eine), als ein höchstes Prinzip (Anfang, Ursprung).

Frage: Stimmt es, dass Sie ein großer Verehrer von Plotin (Philosoph der Spätantike, 205-270 n. Chr.) sind?

Antwort: Ja. Es war Plotin, der mich zur Philosophie brachte.

Frage: Was fasziniert an Plotin?

Antwort: Die Tiefe seiner Gedanken und die Redlichkeit und Bescheidenheit, mit der er die „Liebe zur Weisheit“ (Philosophie) in anderen Menschen zu wecken versuchte. In Plotin lebte noch die ursprüngliche und unverbrauchte Kraft des antiken Philosophierens, an dessen Stelle heute allzu oft intellektuelle Eitelkeit getreten ist.

Frage: Ist es richtig, dass Plotin manchmal etwas abwertend als Mystiker bezeichnet wird? Was hat er denn verbrochen?

Antwort: Eigentlich nichts. Er hat nur die Meinung vertreten, dass der menschliche Verstand an das Höchste, das Eine, nicht heranreicht und man nicht versuchen sollte, es in Begriffe zu packen. Das Eine wäre, wenn überhaupt, nur innerlich in einer Art mystischen Schau zugänglich. Zudem hat später sowohl die christliche als auch die islamische Welt vieles aus Plotins Gedankenreichtum übernommen, um ihre Theologien zu errichten. Plotin wäre damit sicher nicht einverstanden gewesen.

Frage: Gibt es auch etwas, das nicht so gut an Plotin gefällt?

Antwort: Ja, aber das ist etwas, das seit Platon vielen philosophischen Systemen (und so gut wie allen Religionen) anhaftet: ihre oft sehr negative Einstellung zur Welt der Materie, dem diesseitigen Leben.

Frage: Und was gefällt besonders gut an Plotins Philosophie?

Antwort: Seine Emanationslehre. Wie das Höchste, gleich der Sonne, in seiner Fülle überfließt, in Seinsstufen (Hypostasen) bis in die Welt der Materie herabsteigt, sich zur Vielheit entfaltet, individualisiert und dann in einem langsamen Aufstieg wieder zu sich selbst zurückkehrt. Interessierte sollten dazu die Enneaden lesen.

Frage: Soll zu Plotin abschließend noch etwas gesagt werden?

Antwort: Zu Plotin wäre noch unendlich viel zu sagen, aber für das, worauf unser Gespräch hinzielt, sollte man Folgendes im Hinterkopf behalten: Plotin hat in seiner Emanationslehre Platonisches und Aristotelisches Denken zu einer Synthese vereint. Die ganze Plotinische (und Platonische) Metaphysik arbeitet hauptsächlich mit optischen Metaphern. Da ist der Aufruf zum Perspektivenwechsel in Platons Höhlengleichnis. Dann die Weltseele, die auf die ewigen Ideen im Nous (Geist, Weltvernunft, Logos) schaut und so das Licht bis herab in die Welt der Materie leitet (transformiert). Das Gleichnis von Urbild und Abbild, der Begriff der Wesensschau u.v.m.

Frage: Gibt es auch Philosophen der Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit, die begeistern können?

Antwort: Nicht wirklich. Es gibt viele Philosophen, die Großes geleistet haben, aber für die Sache, auf die unser Gespräch hinzielt, sind vor allem noch zwei Philosophen der Neuzeit wichtig und sie vermögen eine ähnlich starke Begeisterung auszulösen wie Plotin.

Frage: Und wem wird die Ehre zuteil?

Antwort: Leibniz und Kant.

leibniz

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) mit Buch, nach einem Gemälde im Ehrensaal des Deutschen Museums, München

Frage: Warum ausgerechnet die Zwei? Leibniz‘ Monadologie ist doch recht seltsam und besteht bei Kant nicht die Gefahr, den Verstand an den Rand der Verzweiflung zu bringen?

Antwort: Leibniz hat die Zentralperspektive, einen Begriff aus der Malerei der Renaissance, für die Philosophie zugänglich gemacht.

Frage: Was ist daran so aufregend?

Antwort: Er hat damit etwas Ähnliches geleistet wie einst Demokrit und Leukipp in der Antike mit ihrer Atomtheorie. So wie diese damals das Fundament der heutigen Physik legten, wird Leibniz eines Tages als Begründer einer exakten Wissenschaft des Bewusstseins gelten.

Frage: Das klingt etwas gewagt. Kann das näher ausgeführt werden?

Antwort: Demokrit und Leukipp haben das ewige Sein des Parmenides, das bis dahin das Weltall kugelförmig umschloss, in lauter kleine Bruchstücke, die Atome, zerschlagen (natürlich nur gedanklich). Etwas ganz Ähnliches hat Leibniz mit der unendlichen Substanz des Spinoza gemacht. Er hat sie in individuelle Bewusstseins-Atome zerlegt, die Monaden. Um die Monadologie zu verstehen, muss man sich nur die Zentralperspektive der Renaissance genauer ansehen:
In dieser wird ein dreidimensionales Objekt des Raumes perspektivisch korrekt auf einer zweidimensionalen Leinwand abgebildet. Dazu werden zunächst Punkte des abzubildenden Objektes mit einem festen Punkt, dem „point de vue“ (Aug-, Blick-, Gesichts- oder Sehpunkt), mittels Lichtstrahlen (auch Projektions- oder Sehstrahlen genannt) verbunden. Ist zum Beispiel das abzubildende Objekt eine Kugel, entsteht dadurch ein Kegel. Bei einem Würfel würden die Strahlen eine Pyramide bilden. Das Auge des Beobachters ist durch die Kegel- bzw. Pyramidenspitze gegeben. In einem nächsten Schritt wird der Kegel bzw. die Pyramide gleichsam senkrecht durchschnitten, sodass die Bildebene (Leinwand, Projektionsebene) entsteht. Überall, wo ein einzelner Strahl die Ebene trifft, entsteht ein Bildpunkt, der mit einem entsprechenden Punkt des abzubildenden Objektes korrespondiert.

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Zeichnung von Giacomo Barozzi da Vignola (1507 – 1573) ital. Architekt des Barocks. Sie stammt aus der Perspektivenlehre Le due regole di prospettiva pratica (Zwei Regeln der praktischen Perspektive – Bologna 1583).
Punkte des abzubildenden Objektes (rechts) werden mit dem Sehpunkt (links) mittels Strahlen verbunden. Da, wo sie die Bildebene (Leon Battista Albertis Fenster) durchstoßen, befinden sich die entsprechenden Bildpunkte.

Frage: Und was hat das mit der Monadologie von Leibniz zu tun?

Antwort: Eine Monade ist auch solch ein Sehpunkt, nur ist es jetzt kein Punkt im gewöhnlichen dreidimensionalen Ortsraum mehr, sondern, wie es Leibniz ausdrückt, ein metaphysischer Punkt. Und an die Stelle der Lichtstrahlen treten sogenannte Perzeptionen. Unter Perzeptionen können wir uns Wahrnehmungen verschiedener Bewusstseinsstufen vorstellen. Die „petites perceptions“ (die kleinen Perzeptionen) liegen noch unter der Bewusstseinsschwelle und gehören somit zum Reich des Unbewussten. Am anderen Ende der Bewusstseinsskala stehen die Apperzeptionen.
Leibniz hat also das materielle Universum (entspricht in der Metapher von der Zentralperspektive der Leinwand mit ihren Bildern darauf, oder in Platons Höhlengleichnis den Schatten an der Wand) um einen geistigen Kosmos erweitert (die Monaden und ihre Perzeptionen = Sehpunkte plus Lichtstrahlen in einem noch näher zu spezifizierenden Raum).
Auf Leibniz und sein perspektivisches Universum wird in zukünftigen Beiträgen noch näher eingegangen. Dieses Gespräch soll zunächst nur einen groben Überblick über das Angestrebte vermitteln. Bei zu großer Detailfülle besteht die Gefahr, den roten Faden zu verlieren und …


Zur Fortsetzung:   Horizonte 5 – Teil B   〉〉〉