Was ist Metaphysik?
Ein paar Definitionsversuche:
Metaphysik ist eine philosophische Grunddisziplin, die das hinter der sinnlich erfahrbaren, natürlichen Welt Liegende, die letzten Gründe und Zusammenhänge des Seins zum Thema hat.
Metaphysik ist das systematische Studium der grundlegendsten Strukturen der Wirklichkeit. Sie fragt nach den Fundamenten, nach Sinn und Zweck der Realität.
Metaphysische Systementwürfe behandeln „letzte Fragen“: Warum gibt es überhaupt Etwas und nicht vielmehr Nichts? Lässt sich ein Grund angeben, warum die Welt ist, wie sie ist? Gibt es Geistiges oder einen Gott, und wenn ja, was können wir darüber wissen? Was macht das Wesen des Menschen aus? Besitzt er eine unsterbliche Seele? Wie steht es mit dem freien Willen? Ist alles der Veränderung unterworfen, oder gibt es auch Dinge und Zusammenhänge, die bei allem Wechsel der Erscheinungen immer gleich bleiben?
Brauchen wir heute noch eine (neue) Metaphysik?
Mehr denn je, denn Fragen nach einem systematisch beschreibbaren „großen Ganzen“ und einem letzten Sinn ist dem Menschen ein „unhintertreibliches Bedürfnis“ (Immanuel Kant). Schopenhauer bezeichnet den Menschen sogar als „animal metaphysicum“, als ein „metaphysiktreibendes Lebewesen“.
René Descartes gilt als Begründer einer neuen Metaphysik und legt das Fundament für die neuzeitlichen Naturwissenschaften und eine Philosophie des Ich. Er unterscheidet beim Menschen zwei unabhängige Substanzen, das „Ausgedehnte“ (Materie, Körper) und das „Ich denke“ (Geist, Seele). Dieser Dualismus führt dazu, dass die Naturwissenschaften und die Philosophie schon bald getrennte Wege gehen. Zahlreiche Naturwissenschaftler sind in Descartes Fußstapfen getreten und ihre Erfolge waren groß. Die Namen der Philosophen hingegen, die von nun an das Ich als zentrales Thema wählten, sind überschaubar, und ihre Erkenntnisse hatten auf die gesellschaftliche Fortentwicklung keinen allzu großen Einfluss.
Die Physik als Naturwissenschaft par excellence hat sich ganz der Erforschung der Materie verschrieben und gilt als Garant objektiver Erkenntnis. Laut Wikipedia bedeutet Objektivität die Unabhängigkeit der Beschreibung einer Sache vom Beobachter beziehungsweise vom Subjekt. Diese geforderte „Unabhängigkeit“ der Objekte vom Subjekt drängte im Laufe der Zeit das Ich als eigenständige, denkende Substanz immer mehr in den Hintergrund und machte in den Naturwissenschaften einem zunehmenden Materialismus Platz, der dem Ich heute nur noch eine Nebenrolle zugesteht. Es ist ein Ich, das als ein neutraler, passiver Beobachter versucht, das Naturgeschehen eins zu eins abzubilden, abzuspiegeln. Dieser Ansatz war lange Zeit sehr fruchtbar für die Forschung, führte aber in zunehmendem Maße zu Verständnisschwierigkeiten, wie die uns umgebende Realität und die Stellung des Menschen darin zu interpretieren sei. Vor allem die Paradoxa der Relativitätstheorie und der Quantenphysik, zudem neue Wissenschaften wie die Neurobiologie stellen die alte Frage nach dem Verhältnis von Objekt und Subjekt neu. Es ist das uralte Leib-Seele-Problem, die Frage wie Materie und Geist, wie Gehirn und Bewusstsein zusammenhängen.
Im Gegensatz zur Naturwissenschaft, die als Garant objektiver Wissenschaft das Ich am liebsten ganz los wäre, hat sich die Philosophie im Deutschen Idealismus fast ausschließlich mit dem Ich beschäftigt: Gemeint ist das Absolute Ich, aus dem nach J.G. Fichtes Wissenschaftslehre die gesamte Welt hervorgeht. Wer den Wettstreit der unterschiedlichen Bedeutung eines Ich davongetragen hat, lässt sich unschwer mit einem Blick auf die Geschichte beantworten. Aber es ist nur der erste Blick. Ein zweiter, genauerer zeigt etwas anderes. Das Ich ist zum Beispiel nie wirklich aus der Physik verschwunden. Es verbirgt sich hinter einem Sprachgebrauch wie unabhängig von einem Ich, der suggeriert, dass ein Ich für eine exakte Naturwissenschaft nicht benötigt wird, nur hinderlich ist. Es sind Wörter wie Kartesisches Koordinatensystem, Koordinatenursprung, Bezugssystem oder Inertialsystem, hinter denen sich das naturwissenschaftliche Ich verbirgt, das erst in der Relativitätstheorie und später umso deutlicher in der Quantenphysik sichtbar wird, und als sogenannter Beobachter die Bühne physikalischen Geschehens betritt.
Spätestens in der Quantenphysik ist der Beobachter kein passiver Betrachter mehr, sondern gestaltet physikalisches Geschehen aktiv mit (das Messproblem). Die zunehmenden, der allgemeinen Vorstellung von Realität zuwiderlaufenden Aussagen (Paradoxa) der Quantenphysik zwingen uns, das Verhältnis von Subjekt und Objekt neu zu überdenken. Solche Paradoxa erfordern einen Paradigmenwechsel, der die auftretenden scheinbaren Widersprüche aufzulösen vermag: einen Perspektivwechsel, der altes metaphysisches Denken neu gestaltet und mit einer durch Mathematik beschriebenen Naturwissenschaft versöhnt.
Descartes verglich den Zusammenhang zwischen Philosophie und Naturwissenschaft mit dem Bild eines Baumes, dessen Wurzeln die Metaphysik, der Stamm die Physik und die Äste die anderen Wissenschaften sind.
In den folgenden Zeilen wird untersucht, wie Physik die elementaren Begriffe Raum, Zeit und Materie interpretiert, und welche Schwierigkeiten damit verbunden sind. Dann soll kurz Kants Transzendentaler Idealismus vorgestellt werden, der ganz neuartige Aussagen über Raum und Zeit tätigt und uns mit einer Weltsicht konfrontiert, die Platz für ein aktives, die Welt gestaltendes Ich lässt; eine Weltsicht, in der Subjekt und Objekt durch den Begriff der Perspektive (ganz im Sinne von G.W. Leibniz) miteinander verbunden sind. Eine Art Hyperraum-Monadologie soll Descartes Baum nach und nach Wirklichkeit werden lassen.
Am Anfang neuzeitlicher Naturwissenschaft steht Isaac Newton. Seine Sicht auf Raum, Zeit und Materie entspricht noch dem „gesunden Menschenverstand“ und ist anschaulich, intuitiv zugänglich. Raum und Zeit sind absolut, und die Materie darin wird von Kräften wie der Gravitation bewegt. Der absolute Raum ist unendlich groß und wird von dem darin stattfindenden physikalischen Geschehen nicht beeinflusst. Analoges gilt für die absolute Zeit: Die absolute … Zeit … fließt gleichmäßig ohne Rücksicht auf etwas Äußerliches … (Newton)
Aber schon mit Einsteins Spezieller Relativitätstheorie kommt unser an das Alltagsgeschehen gewöhnte Vorstellungsvermögen an seine Grenzen, und es beginnt das Reich der Paradoxa.
Schnellbewegte Uhren, deren Geschwindigkeit sich der des Lichtes nähert, gehen plötzlich langsamer (Zeitdilatation). Ein Raumschiff, das die Erde mit beinahe Lichtgeschwindigkeit verlässt und eines Tages wieder zurückkehrt, hat nicht nur eine Reise in den Weltraum absolviert, sondern ist ganz nebenbei auch in die Zukunft gereist: das sogenannte Zwillingsparadoxon.
Aber nicht nur Uhren gehen bei hohen Geschwindigkeiten langsamer, auch Längenmaßstäbe verändern sich. Gegenstände werden in Bewegungsrichtung gestaucht und man spricht von Längenkontraktion. Dauer und Länge – bei Newton noch feste, absolute Größen – werden jetzt bei Einstein zu relativen Größen, abhängig vom Bewegungszustand, der Geschwindigkeit eines Beobachters.
Aber auch große Massen, wie unser Planet, beeinflussen die Zeit. Uhren in Satelliten ticken anders als solche auf der Erdoberfläche. Mit geringer werdendem Abstand zur Erde nimmt die Gravitation zu und bremst den Fluss der Zeit. Am Horizont eines schwarzen Lochs soll die Zeit gleich ganz zum Stillstand kommen. Das Alles klingt verrückt und stellt unser Weltbild auf den Kopf. Aber solche Phänomene lassen sich mithilfe der Speziellen und Allgemeinen Relativitätstheorie exakt berechnen, und ihre Vorhersagen haben sich in allen Experimenten bestätigt. Als zwei Beispiele mögen die „Lebensdauer von Myonen“ und die „Relativistische Zeitkorrektur für GPS-Positionsbestimmung“ genügen.
Newtons Konzeption des absoluten Raumes und der absoluten Zeit liegt unserer Vorstellung von Realität wesentlich näher als eine Welt, in der sich ein konstant dahin fließender Zeitenstrom plötzlich in zahlreiche Seitenarme mit unterschiedlichen Strömungsgeschwindigkeiten und Wirbeln aufspaltet. Das läuft der Vorstellung von Zeit vollkommen zuwider und produziert ein paradoxes Bild von ihr. Trotz seiner Nichtanschaulichkeit bildet Einsteins Theorie von Raum, Zeit und Materie aber die Realität exakter ab, als die von Newton.
Im Alltag bemerken wir von den seltsam anmutenden Verzerrungen von Raum und Zeit nichts. Erst bei sehr hohen Geschwindigkeiten, die nahe an die Lichtgeschwindigkeit heranreichen, und genügend großen Massen, wie die von Planeten oder Sonnen, zeigt uns die Natur ein Gesicht, das wir nicht kennen. Newtons Theorie ist zwar eine für viele Fälle hinreichend genaue Theorie, mehr aber auch nicht.
Verlassen wir die Gebiete makrokosmischer Räume und tauchen in den Mikrokosmos ein, wird es noch unanschaulicher, stolpern wir über zahlreiche neue Paradoxa.
Die Quantentheorie ist die erfolgreichste und genaueste physikalische Theorie, welche die Menschheit bisher hervorgebracht hat. Ihre praktische Anwendung gilt als einer der ganz großen Wirtschaftsmotoren, und Quantenphysik ist in fast jedem Produkt moderner Technologie zu finden. Viele Eigenschaften der Materie sind erst mithilfe der Quantenphysik erklär- und beherrschbar geworden. Aber gleichzeitig gibt sie uns den Blick auf eine Schicht der Realität frei, die wir nicht mehr verstehen. Zu paradox und bizarr sind ihre Voraussagen und Interpretationen - trotz ihrer breiten praktischen Anwendbarkeit. Das hat den Quantenphysiker und Nobelpreisträger Richard Feynman zu der Aussage veranlasst:
„Es gab eine Zeit, als Zeitungen sagten, nur zwölf Menschen verstünden die Relativitätstheorie. Ich glaube nicht, dass es jemals eine solche Zeit gab. Auf der anderen Seite glaube ich, sicher sagen zu können, dass niemand die Quantenmechanik versteht.“
Es gibt zahlreiche Beispiele für das, was niemand versteht. Da ist z.B. der
Wellen-Teilchen-Dualismus
In den Anfängen der Physik, der Klassischen Physik, war ein physikalisches Objekt entweder eine Welle oder ein Teilchen. Als typische Beispiele für eine Welle galten Licht-, Schall- oder Wasserwelle. Als Teilchen wurden etwa Atome angesehen. Wellen sind räumlich weit ausgedehnt, theoretisch sogar unendlich, und können sich durch Überlagerung gegenseitig verstärken oder abschwächen und auslöschen. Ein Teilchen hingegen ist in seiner Gestalt starr, oft als punktförmig idealisiert und örtlich genau lokalisiert. Wellen und Teilchen besitzen Eigenschaften, die sich gegenseitig ausschließen.
Den ersten Wellen-Teilchen-Dualismus entdeckte (wieder einmal) Einstein. Er stellte fest, dass Licht sich nicht nur wie eine Welle verhalten kann, sondern unter bestimmten experimentellen Situationen das Verhalten eines Stroms von Teilchen zeigt. Das Photon, das Lichtteilchen, war geboren. Das Licht hatte plötzlich ein Doppelgesicht: Welle und Teilchen.
Das veranlasste De Broglie, bisher klassischen Teilchen ebenfalls eine Welle zuzuordnen, die Materiewelle. Damit wird aller bisher rein teilchenhaften Materie eine Wellenfunktion zugeordnet. Was muss man sich unter einer die Materie begleitenden Wellenfunktion vorstellen? Und damit beginnen die (Vorstellungs-) Schwierigkeiten. Darüber sind sich bis heute nicht alle Physiker einig, und es gibt alternative Deutungen (De-Broglie-Bohm-Theorie). Die meisten Gründer der Quantenmechanik haben sich nach zähem Ringen schließlich auf die sogenannte Kopenhagener Deutung geeinigt. Frei übersetzt ergibt sich aus der Wellenfunktion ein Maß für die Wahrscheinlichkeit von Materialisation. Quantenmechanische Realität ist demnach eine Überlagerung von mehreren möglichen Zuständen, von denen dann nach einem Messvorgang nur einer – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – zur Wirklichkeit wird. Auch das ist ein Bild von der Realität, welches nicht unbedingt unserer alltäglichen Vorstellung entspricht.
Ein weiteres prominentes Beispiel, wie die Quantenwelt mit unserem „gesunden Menschenverstand“ kollidiert, ist das Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon. Es zeigt, dass die Lokalität, eine der Grundannahmen Klassischer Physik, verletzt wird. Die Lokalität besagt, dass Vorgänge nur unmittelbare Auswirkungen auf ihre direkte räumliche Umgebung haben. Nichtlokalität impliziert eine spukhafte Fernwirkung. Beim EPR-Paradoxon werden mehrere Teilchen zu einem Gesamtsystem möglicher Zustände verschränkt. Wird ein Teil des Systems durch einen Messvorgang in einen konkreten Zustand versetzt, so geht der restliche Teil des Systems ebenfalls in einen konkreten Zustand über, und das instantan (augenblicklich) über beliebig weite Entfernungen, selbst Lichtjahre hinweg.
Dann gibt es noch die Unschärferelation, die eine Verletzung des Energieerhaltungssatzes erlaubt. Der leere Raum ist gar nicht leer, sondern ein brodelndes Meer virtueller Teilchen; Teilchen die für eine kurze, durch die Unschärferelation festgelegte Zeitspanne in die Existenz treten, nur um sich danach wieder in Nichts aufzulösen.
Die Liste paradoxer Erscheinungen ließe sich beliebig fortsetzen. Aber die Auswahl möge genügen, um zu zeigen, dass unsere gewohnte Umgebung einer Insel gleicht, an deren Rändern eine uns unbekannte Welt existiert. Diese können wir zwar teilweise mithilfe der Mathematik abstrakt formulieren, aber kaum noch in die Alltagssprache übersetzen.
Je tiefer wir in die Strukturen von Raum, Zeit und Materie eintauchen, umso schwieriger wird es für unser Vorstellungsvermögen, zu folgen und auf die – für unser Menschsein so wichtigen Fragen – Antworten zu erhalten. Es sind dies Fragen, welche die Menschheit schon immer beschäftigt haben, und es ist das weite Gebiet, das die Philosophie die Metaphysik nennt.
Zur Fortsetzung: Metaphysik 1B 〉〉〉