Die Physik ist der Versuch, Realität mithilfe von Geometrie und Algebra abzubilden. Bei Newton ist dies die Euklidische Geometrie. Damit solche Modelle die Natur quantitativ erfassen können, bedarf es eines festen Bezugspunktes, von dem aus die Welt vermessen wird. Das von Descartes eingeführte Koordinatensystem übernimmt diese Rolle. Dabei bestimmt das freie Ich, nach dem Kriterium der Zweckmäßigkeit, von wo aus es die Welt beobachten, wissenschaftlich beschreiben möchte. Die Planetenbewegung lässt sich beispielsweise sowohl von der Erde als auch der Sonne oder jedem beliebigen anderen Ort aus beschreiben. Die Sonne als fester Bezugs- bzw. Beobachterpunkt macht jedoch vieles einfacher.
Vom Ursprung eines Koordinatensystems (0,0,0) aus, lassen sich jedem Raumpunkt eindeutig die Koordinaten (x,y,z) zuordnen, wird reales physikalisches Geschehen im theoretischen Modell durch Zahlen und Geometrie beschreibbar. Bei einer solchen Modellbildung werden die in der Realität endlich ausgedehnten Objekte gewöhnlich durch punktförmige Idealisierungen ersetzt, und Licht durch geometrische Geraden. Auch der zunächst reale, lebendige Beobachter verwandelt sich in den punktförmigen Ursprung des Koordinatensystems, den Archimedischen Punkt physikalischen Geschehens.
Zentral für eine solche Modellbildung ist die Frage, was passiert, wenn sich die Beobachterperspektive ändert. Solche Perspektivwechsel werden im Modell durch Verschieben, Drehen oder eine konstante Geschwindigkeit des Koordinatensystems beschrieben. Mathematisch werden solche Perspektivwechsel in der Welt von Newton durch die sogenannten Galilei-Transformationen dargestellt. Da Physik vor allem eine objektive Wissenschaft sein will, fragt sie primär nach Größen, die dabei unverändert (invariant) bleiben.
Im Theoriegebäude von Newton verhält sich noch alles so, wie man es auch ohne viel Mathematik erwarten würde:
Die mittels der Galilei-Transformationen ausgedrückten Perspektivwechsel haben keinen Einfluss auf den Gang von Uhren oder räumliche Abstände, sie verändern nicht die Masse bewegter Objekte, und Naturgesetze behalten ihre Form. Raum, Zeit, Masse und Naturgesetze sind im Newtonschen Modell Invarianten, das heißt von den verschiedenen Perspektiven eines Beobachters unabhängig.
Das ändert sich mit Einsteins Spezieller Relativitätstheorie. Aus absoluten Größen werden plötzlich relative Größen. Perspektivwechsel werden in der Welt von Einstein durch Poincaré-Transformationen beschrieben. Bewegt sich ein Beobachter mit genügend hoher Geschwindigkeit, beginnen sich Raum und Zeit zu verzerren, gehen Uhren langsamer, verkürzen sich räumliche Längenmaßstäbe, nimmt die Masse von Körpern zu usw. Raum, Zeit und Materie sind nicht länger beobachterunabhängige Größen.
In der Newton-Welt war es noch möglich so zu tun, als gäbe es keinen Beobachter. Das funktioniert in der Einstein-Welt nicht mehr. An die Stelle der alten Invarianten treten neue Invarianten (Lichtgeschwindigkeit, Eigenzeit, Ruhemasse). Diese zunächst ungewohnten Phänomene sind nur ein erster Hinweis darauf, dass die Rolle des Beobachters neu überdacht werden muss, dass er kein lästiger Nebenakteur auf der Bühne physikalischen Geschehens ist, den man nicht richtig los wird (um die Objektivität zu retten). Aber aufzuzeigen, dass wissenschaftliche Objektivität in der universellen Bewusstseinsstruktur eines Ich gründet, war gerade das große Kantische Vorhaben.
Noch stärker als schon in der Relativitätstheorie, kommt in der Quantenphysik der Beobachter ins Spiel. Die Aussagen der Quantenphysik erinnern manchmal an die Worte eines extremen Vertreters des Subjektiven Idealismus, George Berkeley: Esse est percipi (Sein ist wahrgenommen werden).
Ein quantenphysikalisches Objekt verwandelt sich erst dann zu einem konkreten realen Gegenstand, wenn es durch einen Messprozess (Beobachtung) dazu gezwungen wird. Vorher ist es eine Überlagerung quantenphysikalischer Zustände. Aus Möglichkeit wird Wirklichkeit.
Nicht von ungefähr hat Werner Heisenberg die Sprache der Quantenphysik an Platon und Aristoteles erinnert.
Die Natur ist auf dieser Ebene nicht fest vorgegeben. Was wir zu sehen bekommen, ist auch stark abhängig vom Messverfahren und der damit verbundenen Fragestellung. Wenn wir fragen, wo sich ein Objekt vor der Messung befindet, lautet die Antwort: potentiell überall gleichzeitig. Es ist noch nicht lokalisiert. Erst wenn wir in einem Experiment konkret nachsehen, tritt es in eine räumliche Existenz, materialisiert es an einem bestimmten Ort. Wo genau, entscheidet der Zufall (vielleicht auch der ganze Kosmos) nach einer Wahrscheinlichkeitsverteilung. Quantenphysikalische Objekte sind im Gegensatz zu klassischen Objekten nichts fest Vorgegebenes. Was wir in der Quantenwelt zu sehen bekommen, hängt in hohem Maße davon ab, welche Fragen wir an die Natur richten. Das alles und viele weitere Beispiele weisen auf einen Transzendentalen Idealismus hin, der dem Subjekt, dem Ich, einen großen Einfluss bei der Wirklichkeits-Konstitution zugesteht.
Wenn es stimmt, dass Physik immer tiefer in die Realität eindringt, und wenn zudem, wie Kant behauptet, hinter den Erscheinungen ein unräumliches und unzeitliches Ding an sich steht, dann sollte es nicht zu sehr verwundern, dass wir auf dem Weg dorthin seltsamen, paradox anmutenden Phänomenen begegnen.
Damit sind wir bei Kant und seinem Kritischen Idealismus angelangt. Der Materialismus geht vom Primat der Materie aus. Bewusstsein, Gedanken und Gefühle sind demnach nur sekundäre Erscheinungen, eine Art verfeinerte Materie. Beim Idealismus ist es genau umgekehrt. Im Zentrum steht hier das erkennende Ich, das Subjekt, und alles ist Bewusstsein; Materie wird nur als eine gröbere, verfestigte Form von Geist betrachtet. In ihren Extrempositionen sind sowohl Materialismus als auch Idealismus Einseitigkeiten. Ein reiner Materialismus hat den Determinismus (Vorherbestimmtheit allen Geschehens) im Schlepptau und verwandelt den freien Willen in eine Illusion. Der Subjektive Idealismus a la Berkeley macht hingegen aus der Welt einen Traum des Ich.
Kant geht mit seinem Kritischen Idealismus einen Mittelweg. Es ist der Versuch, sowohl die Objektivität der Physik, als auch die Freiheit des Menschen zu retten. Das Kantische Ich ist kein passives Ich, sondern gestaltet (formt) die Welt aktiv mit. Die Natur (Außenwelt) liefert uns zunächst nur das „Rohmaterial“. Damit aus diesem zusammenhanglos erscheinenden Mannigfaltigen ein Gegenstand der Erfahrung wird, muss es vom Ich noch „geformt“, zu Einheiten verbunden werden. Das geschieht mithilfe der sogenannten Anschauungs- und Denkformen. Diese universellen Bewusstseinsstrukturen bestimmen in hohem Maße unsere Sicht auf die Welt, wie uns Welt erscheint. Diese apriorischen Formen des Bewusstseins sind im metaphorischen Sinne gleich einer (aktiven) Brille, die wir nicht abnehmen können. Das ist der Grund, warum wir immer nur Erscheinungen (Phänomene) wahrnehmen, nie aber das, was hinter den Erscheinungen steht, das Ding an sich.
Objektivität ist nicht dadurch gegeben, dass die erscheinende Welt unabhängig vom Ich ist, sondern Objektivität ist im Kritischen Idealismus dadurch garantiert, dass wir alle mit denselben universellen Bewusstseinsformen die Welt betrachten.
Der Mensch selbst ist von zweifacher Natur: Einmal tritt er als Körperlichkeit in Erscheinung und ist – wie andere Gegenstände auch – der Naturgesetzlichkeit unterworfen, zum anderen ist diese Körperlichkeit aber Erscheinung von Etwas, dem intellegiblen Charakter, dem Ding an sich, der Vernunft, welche erst Freiheit ermöglicht.
Um zu sehen, wie sich Physik und Metaphysik zu einem großen Ganzen, zu einer perspektivisch geordneten Architektonik zusammenfügen, bedarf es noch mehr Detailarbeit.
Was sind nun die für die Physik so wichtigen Begriffe Raum, Zeit und Materie für Kant? Die kurze und wahrscheinlich unverständliche Antwort lautet:
Der Raum ist die Anschauungsform des äußeren Sinnes.
Die Zeit ist die Anschauungsform des inneren Sinnes.
Materie ist das, was mit der Empfindung korrespondiert.
Wie ist das zu verstehen? Zunächst muss man sich klar machen, dass Kant ganz vom Subjekt her argumentiert. Es ist ein Subjekt, dem ein unräumliches und unzeitliches Ding an sich gegenübersteht. Aber nur in einer sogenannten „intellektuellen Anschauung“ könnten wir das Ding an sich direkt und unmittelbar anschauen. Nach Kant besitzen wir eine solche jedoch nicht. Unsere Anschauung ist an Bedingungen geknüpft. Das unräumliche und unzeitliche Ding an sich zeigt sich uns nur in Form von räumlich ausgedehnter Materie, in Ruhe oder Bewegung. Diese Anschauungsformen sind Bestandteil des Erkenntnissubjektes und a priori gegeben. Durch sie erleben wir überhaupt erst eine raum-zeitlich geordnete Welt der Erscheinungen. Alles was in die Existenz unseres Universums will, muss durch diesen Raum-Zeit-Filter hindurch.
Obzwar insofern „subjektiv“, als sie [die Anschauungsform] im erkennenden Subjekt wurzelt, hat sie Geltung für die Objekte als Erfahrungsgegenstände, als „Erscheinungen“; sie ist also „ideell“ und zugleich von „empirischer Realität“, da alles Objektive nur in der Form der Anschauung vorstellbar ist. (Kant)
In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung correspondirt, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung. Da das, worin sich die Empfindungen allein ordnen und in gewisse Form gestellt werden können, nicht selbst wiederum Empfindung sein kann, so ist uns zwar die Materie aller Erscheinung nur a posteriori gegeben, die Form derselben aber muß zu ihnen insgesammt im Gemüthe a priori bereit liegen und daher abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden. (Kant)
Während also die Anschauungsformen (als Bedingungen wie etwas angeschaut werden kann) im Subjekt wurzeln und a priori gegeben sind, kommt die Materie a posteriori durch Affektion (Einwirkung des Ding an sich) hinzu und korrespondiert mit unseren Empfindungen.
Dass es überhaupt eine Welt, einen Kosmos gibt, hat seinen tieferen Grund in der Existenz des Ding an sich. Wie uns dieses Ding an sich als Welt erscheint, nämlich raum-zeitlich geordnet, liegt an der Struktur unseres Ich. Lebewesen mit einer anderen Bewusstseinsstruktur (Formen der Anschauung) würden einen ganz anderen Kosmos wahrnehmen, obwohl sie dasselbe Ding an sich abspiegeln.
Um Kant in eine mit der Physik und Mathematik konforme Sprache übersetzen zu können, ist ein kurzer Abstecher zu Leibniz nötig. Ein zentraler Begriff seines philosophischen Systems, die Monadologie, ist der von ihm eingeführte Begriff der Perspektive. Übersetzt man Perspektive mit „Sichtweise, Standpunkt, Blickwinkel von dem aus etwas gesehen wird“, so fällt schnell die Nähe zur Physik als auch zu Kants Anschauungsformen auf. Im Begriff der Perspektive sind Subjekt und Objekt durch eine Relation fest miteinander verbunden, wird der Kartesische Dualismus überwunden, wird Objektivität neu definiert.
Und wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, jeweils ganz anders erscheint, wie sie gleichsam perspektivisch vervielfältigt ist, so kommt es entsprechend durch die unendliche Menge der einfachen Substanzen [Monaden], dass es gleichsam ebenso viele Universa gibt, die jedoch nur die Perspektiven eines einzigen Universums unter den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade sind. (Leibniz, Monadologie)
Monaden sind nach Leibniz lebendige Spiegel, Perspektiven eines einzigen Universums. Dieses einzige Universum erinnert stark an Kants Ding an sich.
Was wissen wir noch über die Monade?
Monaden sind ausdehnungslose, metaphysische, beseelte Punkte.
Die Monaden besitzen, je nach dem Grad ihrer Vollkommenheit, die Fähigkeit zur Wahrnehmung (Perzeption) und zum Streben, Begehren (Appetition, appêtit).
Die Monade hat eine Hülle aus Erstmaterie (materia prima).
Der Begriff der Perspektive spielt in Leibniz Welt der Monaden eine zentrale Rolle. Im besonderen ist es die Zentralperspektive, welche bei der Konstruktion der Monade wohl Pate stand.
Durch die Zentralperspektive ist es möglich, auf einer zweidimensionalen Fläche die Illusion von Raumtiefe zu erschaffen. Die Objekte eines zentralperspektivischen Bildes scheinen räumlich geordnet zu sein, denn nahe erscheinen größer, ferne kleiner. Ein zentralperspektivisches Bild gibt die Wirklichkeit mehr (Foto, Film) oder weniger (Gemälde) realistisch wieder.
Anfänglich entstanden solche Bilder mittels einer Schnur, die von einem festen Punkt an der Wand ausgehend, zu den abzubildenden Objektpunkten gespannt wurde. Auf einem Tisch befand sich neben dem Objekt noch ein Rahmen mit einem beweglichen Fadenkreuz darin. Damit konnte der Durchstoßpunkt der Schnur durch die vom Rahmen festgelegte Ebene bestimmt und auf das Zeichenblatt übertragen werden („perspektivisches Abschnüren“).
Von philosophischem Interesse ist hier vor allem die Urbild-Abbild-Relation. Eine 3-dim Welt (Urbild, Original) wird auf eine 2-dim Fläche (Abbild) abgebildet. Das lässt sich mathematisch auf beliebige Dimensionen verallgemeinern. Eine 4-dim Welt wird auf eine 3-dim, eine 5-dim auf eine 4-dim usw. abgebildet.
Wie ist nun die analoge Beziehung zwischen Monade und Zentralperspektive?
Dem ausdehnungslosen, metaphysischen und beseelten Punkt der Monade entspricht der feste Punkt der Zentralperspektive, von dem aus die Schnur zu den verschiedenen Objektpunkten gespannt wird, es ist der Blick-, Aug- oder Standpunkt der Perspektive.
Die Perzeptionsfähigkeit der Monade ist in der Zentralperspektive durch die Sehpyramide gegeben, Schnüre (Lichtstrahlen), die das Objekt (Urbild) mit dem Subjekt (Augpunkt) verbinden. Es ist ein passives, erleidendes Vermögen.
Das Streben, Begehren der Monade hingegen ist ein aktives, tätiges Vermögen, welches bestimmt, was und wie etwas angeschaut werden soll.
In der philosophischen Konstruktion bei Leibniz und Kant geschieht Folgendes:
Macht man durch die Sehpyramide einen Schnitt (als Abbild der von uns wahrgenommenen physikalischen Wirklichkeit), dann fällt auf, dass der Sehpunkt, der Beobachter, nicht mehr inmitten von Raum und Zeit verankert ist, sondern aus diesen herausgetreten ist. Das Ich, der Archimedische Punkt, liegt jetzt außerhalb von Raum und Zeit (Kants Kopernikanische Wende), ist aber mit der dortigen Materie durch sogenannte Sehstrahlen verbunden.
Wie genau diese Konstruktion mithilfe von Felix Klein und Fichte zu bewerkstelligen ist, wird Gegenstand der sich anschließenden Beiträge sein. Aspekte dieser Konstruktion wurden vorbereitend bereits in vergangenen Lexikonpunkten behandelt, sollen dann aber, um den gesamten Kontext zu erkennen, noch einmal zusammenfassend erwähnt werden.