Das perspektivische Universum – Ein Selbstgespräch – Teil B
Frage: Nur noch eine Sache zu Leibniz. Weiter oben war die Rede von einer „exakten Wissenschaft des Bewusstseins“. Das ist starker Tobak. Und dann wurde die Monade als ein metaphysischer Punkt bezeichnet. Das Wort Metaphysik hat in den Naturwissenschaften keinen guten Ruf. Können Sie den Lesern mit den skeptisch hochgezogenen Augenbrauen dazu etwas Beruhigendes sagen?
Antwort: Leibniz wusste sehr genau, dass, um Kants Worte zu gebrauchen, „[…] in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist“. Leibniz‘ erweiterte Naturlehre, die neben der gesetzmäßig-mechanisch bewegten Materie auch das bewusste Lebewesen miteinschließen sollte, musste also, um den Ansprüchen einer exakten Wissenschaft zu genügen, auch mathematisch formulierbar sein.
Frage: Und hat Leibniz die „passende“ Mathematik für seine Philosophie der Monade gefunden?
Antwort: Leider nur in Ansätzen, was aber bei der Größe des Vorhabens nicht verwundert. Leibniz war nicht nur Philosoph, sondern auch ein genialer Mathematiker, und irgendeine obskure Zahlenmystik lag ihm fern. Er hatte ein sehr gutes Gespür für das, was mathematisch „passt“ und was nicht. So bemängelte er an der Analytischen Geometrie Descartes‘ ihren zu quantitativen Charakter und dass die qualitativen Aussagen über geometrische Zusammenhänge darin nur sehr schwer und umständlich zum Ausdruck kämen. Leibniz sah in den mathematischen Entwürfen seiner Zeit nur die Vorstufe zu einer „wahren“ Mathematik, einer „ars characteristica“, einer Art Universalsprache. Die Suche nach einer solchen neuen Sprache hat ihn sein ganzes Leben lang beschäftigt.
Frage: Hat er sie gefunden?
Antwort: Wie gesagt, in Ansätzen. Ein solcher war zum Beispiel der mathematische Begriff der Kongruenz (Übereinstimmung). Aber das würde an dieser Stelle zu weit führen.
Frage: Dann ist Leibniz‘ Programm also gescheitert?
Antwort: Nein, ganz und gar nicht. Andere haben seine Arbeit fortgeführt, bewusst oder unbewusst.
Frage: Wer zum Beispiel?
Antwort: Was die Suche nach einer „ars characteristica“ betrifft, ist da vor allem Hermann Graßmann und seine lange nicht verstandene „Ausdehnungslehre“ zu nennen. Der große Mathematiker Clifford hat dann aber schließlich ihre Bedeutung erkannt, sie mit der Quaternionentheorie von Hamilton vereint und daraus die Clifford Algebra (auch Geometrische Algebra genannt) entwickelt, deren wahre Bedeutung gerade erst erkannt wird (ein Verdienst David Hestenes) und die dabei ist, die unterschiedlichsten Wissenschaftszweige zu erobern. Um nur einige Beispiele zu nennen: Theoretische Physik, Computergraphik, Robotik, Neuronale Netze usw.
Eine andere wichtige Sache für die Monadologie ist die Projektive Geometrie, die durch Gérard Desargues (1591-1661, fr. Architekt und Mathematiker) begründet wurde.
Frage: Können Sie den interessierten Lesern in einfachen Worten sagen, was Projektive Geometrie ist?
Antwort: Die Projektive Geometrie ist eine abstrakte Verallgemeinerung der Zentralperspektive (der Renaissance) auf beliebig dimensionale Räume in der Sprache der Geometrie. Aus dem uns umgebenden Raum wird z.B. ein Projektiver Raum, indem wir zunächst eine zusätzliche Dimension annehmen. Unser dreidimensionaler Ortsraum ist dann eine Hyperebene in diesem größeren, vierdimensionalen Raum. Als nächstes brauchen wir einen festen Punkt außerhalb unseres Raumes, irgendwo in der vierten Dimension. Dann verbinden wir jeden Punkt innerhalb unseres dreidimensionalen Raumes mit dem festen Punkt außerhalb. Die dabei entstehenden Geraden (Strahlen) heißen „eigentliche Punkte“. Die Geraden (Strahlen), die zwar auch durch den festen Punkt gehen aber ansonsten parallel zu unserem Raum verlaufen und somit keinen Punkt mit ihm gemeinsam haben, heißen „uneigentliche oder ideale Punkte“. Dem gewöhnlichen dreidimensionalen, potentiell unendlichen Raum werden so mithilfe einer vierten Dimension ideale Punkte hinzugefügt, die das aktual Unendliche dieses Raumes repräsentieren.
Vergleichen wir den dreidimensionalen Raum (worin sich auch unser eigener Körper befindet) mit Descartes‘ res extensa (Welt der Ausdehnung) und den (metaphysischen) festen Punkt außerhalb mit der res cogitans (das Descartsche Ich als Archimedischer Punkt), dann wird ersichtlich, warum der Projektive Raum für die Monadologie genau der richtige ist.
Der Projektive Raum ist ein übergeordneter Sehraum (Beobachter + Raum), aus dem die verschiedenen metrischen Räume (in denen dann auch physikalische Größen gemessen werden können) erst durch Festlegung eines Kegelschnittes als Fundamentalgebilde (Horizont) hervorgehen.
Frage: Moment, jetzt muss ich erstmal überlegen. Der dreidimensionale Raum mitsamt seiner Materie darin entspricht also dem Bild (bzw. den Schatten an Platons Höhlenwand) einer höherdimensionalen Perspektive. Es ist die Welt, wie sie uns auch durch die Physik beschrieben wird. Dann soll es da noch Monaden, Bewusstseinspunkte – außerhalb des Raumes – geben, die mit der Materie durch Perzeptionen verbunden sind. Diese „Verbindung“ bereitet mir noch Probleme. Soll denn das Bewusstsein mittels dieser Perzeptionen auf die Materie (und umgekehrt) einwirken können?
Antwort: Nein. Zwischen den Monaden mit ihren Perzeptionen und der Welt der Materie besteht keine Verbindung mittels irgendwelcher geheimnisvoller Kräfte, sondern es ist eine Parallelität, die beide Welten miteinander verbindet oder besser gesagt harmonisiert. Leibniz nannte das „prästabilierte Harmonie“. Das auszuführen würde jetzt aber wirklich zu weit führen, und ich muss auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten.
Frage: Ich fasse also zusammen: Wir haben jetzt den richtigen Raum (der Projektive Raum als perspektivischer Raum der Monade) und die passende mathematische Sprache (Geometrische Algebra als Vorstufe einer zukünftigen „ars characteristica“). Fehlt noch was Wichtiges?
Antwort: Ja, und zwar das Erlanger Programm von Felix Klein.
Frage: Warum ist das wichtig?
Antwort: Weil das Erlanger Programm die Geometrie mit der Gruppentheorie (in der Physik werden damit Symmetrien beschrieben) verbindet und eine hierarchische Beschreibung des Weltenbaus erlaubt.
Wie noch gezeigt werden soll, liegt der ganzen Philosophie Kants eine perspektivisch und hierarchisch geordnete Architektonik zu Grunde. Seine „Grundsätze des reinen Verstandes“ (Prinzipien möglicher Erfahrung) können mithilfe von Leibniz und F. Klein als unterschiedliche Perspektiven des Bewusstseins – mit ihren ganz speziellen Horizonten – interpretiert und der mathematischen Sprache zugänglich gemacht werden.
Frage: Kant stand einer Mathematisierung der Philosophie recht skeptisch gegenüber.
Antwort: Sieht man sich seine Argumentation zu diesem Thema an, dann wird ersichtlich, dass Leibniz bereits genau die Hindernisse beiseite geschafft hat, deretwegen Kant meinte, dass Mathematik und Philosophie nicht so gut zusammengingen.
Frage: Leibniz‘ „Atomisierung“ des Bewusstseins in einfachste, nicht weiter teilbare Elemente?
Antwort: Genau.
Frage: Was sagt zu all dem die Naturwissenschaft mit dem größten Autoritätsanspruch bezüglich Fragen zur Realität, die Physik? Oben wurde hauptsächlich vom optischen Sehen als Metapher, von Zentralperspektive, Sehräumen, Urbild und Abbild gesprochen. Wie soll das mit der „harten“ Materie der Physik zusammengehen?
Antwort: Dazu ist Folgendes zu sagen. Felix Klein war nicht nur ein genialer Mathematiker, sondern hatte auch viele fruchtbare Ideen hinsichtlich der Physik. Eine davon war, dass die gesamte Klassische Mechanik auch als Ausbreitung von Licht in höherdimensionalen Räumen beschrieben werden kann. Eine Aussage, die von Physikern damals aus Angst vor der Metaphysik oder einfach auch nur aus Unverständnis ignoriert wurde. Aber lassen wir F. Klein selbst zu Worte kommen:
„Die Entdeckungen Hamiltons in der Mechanik sind in der Tat sozusagen nur Korollare seiner optischen Grundgedanken. […] Ich selbst habe mir, als ich bei meinen Reisen die Sachlage genauer kennen lernte, viele aber vergebliche Mühe gegeben, Hamiltons optische und mechanische Resultate in Deutschland bekannt zu machen. Insbesondere habe ich mir im Sommer 1891 das Vergnügen gemacht, im Anschluß an Hamilton die ganze Mechanik als eine Art Optik im n-dimensionalen Raum zu behandeln und darin die Jacobischen Weiterbildungen eingearbeitet; im selben Jahr habe ich auf der Naturforscherversammlung in Halle über diese Dinge vorgetragen; die Ausarbeitung dieser Vorlesung hat 20 Jahre lang im Göttinger Lesezimmer aufgelegen […] alle diese Versuche waren letzten Endes vergeblich. Hamiltons Gedanken in ihrer eigenen, von der Optik kommenden Gestalt waren und blieben unbekannt in den Kreisen, die am meisten Interesse hätten daran finden müssen.“
Nachzulesen in den Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19 . Jahrhundert (F. Klein, Seite 198).
Frage: Das kann ja auch als ein Beispiel für die anfangs erwähnte Selbstblockade der Physik gelesen werden. Gibt es noch mehr solche Beispiele?
Antwort: Ja, gleich auf Seite 199 geht es weiter:
„Schließlich ist unter den hemmenden Einflüssen noch einer Richtung zu gedenken, die ich bei dieser Gelegenheit deutlich zurückweisen möchte; das ist die Polemik, die nicht nur Hamilton erfuhr, sondern alle Mechaniker, die sich der Variationsprinzipe in seinem Sinne bedienten, von seiten unverständiger Rationalisten. Aus der ursprünglichen Vorliebe der Philosophen für diese Prinzipe wegen der Zweckidee, die darin zum Ausdruck käme, schöpften diese Leute nun eine Abneigung, indem sie der sich ihrer bedienenden Naturwissenschaft den Vorwurf der Teleologie machten.“
Frage: Also gut … Die Klassische Mechanik ließe sich nach F. Klein auch als eine „Optik bzw. Lichtlehre in höherdimensionalen Räumen“ beschreiben. Was genau ist dadurch gewonnen?
Antwort: Nicht weniger als dass wir eine gemeinsame Sprache für Physik und Metaphysik bekommen, die sich mithilfe der entsprechenden Mathematik zu einer neuen exakten Wissenschaft ausarbeiten lässt.
Frage: In unserem Gespräch war jetzt schon des Öfteren von höherdimensionalen Räumen die Rede. Die Physik hat ihren Widerstand dagegen ja schon lange aufgegeben und kommt ohne sie heute gar nicht mehr aus. Können Sie unseren Lesern dazu noch etwas genaueres sagen?
Antwort: In einem der nächsten Artikel soll ein kosmologisches Modell vorgestellt werden, das neben einer „Kausalität nach Gesetzen der Natur“ auch eine „Kausalität aus Freiheit“ (Kant) ermöglicht.
Dieses perspektivische Universum, welches auch den „Beobachter“ und sein Bewusstsein miteinbezieht, wird sechs Dimensionen aufweisen: die vier Dimensionen der Raumzeit, eine weitere raumartige fünfte Dimension, die einer „Wirkung“ entspricht, und eine zeitartige sechste Dimension (als Richtung einer höherdimensionalen Perspektive), die man in Aristotelischem Sinne als Zweckursache, als ein „Hinschauen“ auf Motive (Ideen) verstehen kann.
Frage: Hm … bei dem Wort Zweckursache erschaudert (fast) jeder Physiker. Was lässt sich zu der fünften und sechsten Dimension sonst noch sagen?
Antwort: Bei der fünften Dimension, als einer Wirkung, werden wir die „5-optics“ von Juri B. Rumer (sowjet. Physiker, 1901–1985) befragen, und vor allem weiß Jaime Kellers (mex. Physiker, 1936–2011) START-Theorie einiges Interessantes darüber zu berichten. Die sechste Dimension wird sich uns dann bei der konformen Kompaktifizierung der Minkowski-Raumzeit erschließen.
Frage: Mal eine ganz andere Frage. Haben Sie nicht das Gefühl, die meisten der Leser mit dieser Fülle von Namen und Begriffen hoffnungslos zu überfordern?
Antwort: Ja, vermutlich. Aber diese Auflistung soll zunächst nur eine Übersicht (Inventarliste) geben und zeigen, dass das Ganze auf solidem wissenschaftlichem Boden steht. Die einzelnen Punkte werden in Zukunft noch detailliert besprochen und dabei soll es so einfach und anschaulich wie möglich zugehen.
Frage: Na gut, wollen wir das mal glauben. Noch irgendwelche abschließenden Worte?
Antwort: Den Spuren der oben genannten Philosophen, Mathematiker und Physiker werden wir folgen und dabei zeigen, dass Physik (als eine Naturwissenschaft) und Philosophie (als eine Geisteswissenschaft) sich zu einer den Kartesischen Leib-Seele-Dualismus überwindenden exakten Wissenschaft zusammenführen lassen, wenn auch die genaue Ausgestaltung einer solchen „ars characteristica“ – wie sie Leibniz vorschwebte – Aufgabe zukünftiger Generationen bleiben wird und hier nur eine Skizze dazu gegeben werden kann.
So schließt sich der Kreis: Am Anfang steht der weltenschaffende Logos der Antike, der als eine schöpferische Sprache das Universum hervorbringt. Dann – ab einer gewissen Stufe der Evolution – beginnen Lebewesen, den Logos bewusst in ihrem Verstande wahrzunehmen, und sie versuchen seine Worte gleichsam nachzubuchstabieren. Auch wenn dabei zunächst nicht viel mehr als ein Stammeln hervorkommt und der ewige Logos ihrem Verstand unendlich weit überlegen ist, so besteht doch die Hoffnung, dass sie im Laufe der Evolution begreifen, was es heißt ein Mensch zu sein, und sie sich zu wahren schöpferischen Wesen fortentwickeln.
Zur Fortsetzung: Horizonte 6 – Teil A 〉〉〉