Unendlichkeit 1 (Takimo 16)

Gibt es die Unendlichkeit oder ist sie nur eine Fiktion, eine Erfindung des Menschen? Über diese Frage wurde in der Vergangenheit viel diskutiert, manchmal sogar heftig gestritten, und die Diskussionen darüber halten bis zum heutigen Tage an.

Alle in der Natur messbaren Dinge sind endlich, auch wenn physikalische Größen (wie Druck und Temperatur) im Inneren von Sternen ungeheure Ausmaße annehmen können. Nur für das Zentrum Schwarzer Löcher und die Sekunde Null des Urknalls liefern die zugehörigen Theorien unendliche Werte. Dies deutet aber nach Meinung der meisten Wissenschaftler lediglich darauf hin, dass die entsprechenden Theorien unter diesen extremen Bedingungen keine richtigen Beschreibungen der Natur mehr liefern.
 

Wie groß ist die Unendlichkeit?

Existiert das Unendliche in der Mathematik? Blättert man durch mathematische Bücher, so wird man relativ schnell auf das Symbol ∞ stoßen. Es wurde von dem englischen Mathematiker John Wallis 1655 als Symbol für eine abstrakte unendliche Größe eingeführt.

Mit der von Isaac Newton (1643-1727, englischer Physiker und Mathematiker) und Gottfried Leibniz (1646-1716, deutscher Universalgelehrter) unabhängig voneinander entwickelten Infinitesimalrechnung hatte das Unendliche massiv Einzug in die Mathematik gehalten und beunruhigte viele Mathematiker des 19. Jahrhunderts durch die damit verbundenen Paradoxien. Bernard Bolzano (1781-1848, tschechischer Mathematiker und Philosoph) beschäftigte sich ausgiebig mit diesen „Paradoxien des Unendlichen“ und war noch der Meinung, es gäbe nur eine Art von Unendlichkeit.

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Georg Cantor lieferte wichtige Beiträge zur modernen Mathematik und gilt als Begründer der Mengenlehre

Georg Cantor (1845-1918, deutscher Mathematiker) konnte jedoch auf originelle Weise zeigen, dass es verschiedene Unendlichkeiten in der Mathematik gibt, und dass sie sich mit Hilfe von „transfiniten Zahlen“ (Zahlen jenseits des Endlichen) klassifizieren lassen. Dazu musste Cantor annehmen, dass unendliche Mengen, wie z.B. die „Menge aller natürlichen Zahlen“, als wirkliche mathematische Objekte existieren, worüber ein langer Streit ausbrach, dessen Nachbeben bis in die heutige Zeit reicht. Der Streit geht auf eine von Aristoteles (384-322 v. Chr., griechischer Philosoph) eingeführte Begriffsbildung zurück, die Unterscheidung zwischen dem potentiell und dem aktual Unendlichen.

Vertreter des potentiell Unendlichen (Kronecker, Gauß, Poincaré, Brouwer, Weyl, …) akzeptieren zwar, dass natürliche Zahlen (1, 2, 3, …) der Möglichkeit nach immer weiter gezählt werden können, ohne jemals zu einem Ende zu gelangen. Zu jeder Zahl n kann eine noch größere Zahl n+1 gefunden werden. Sie lehnen es aber ab, unendliche Mengen, wie die „Menge aller natürlichen Zahlen“, als eigenständig existierende mathematische Objekte anzuerkennen.

Vertreter des aktual Unendlichen hingegen (Cantor, Bolzano, Dedekind, Hilbert, Russell, … und die Mehrzahl der heutigen Mathematiker) halten die geistige Konstruktion einer unendlichen Gesamtheit, wie die „Menge aller natürlichen Zahlen“, für sinnvoll und wichtig.

Cantors herausragende Leistung war es zu zeigen, dass es unterschiedlich „große“ Unendlichkeiten gibt. Dazu führte er den Begriff der Mächtigkeit einer Menge ein. Die Mächtigkeit einer endlichen Menge ist gleich der Anzahl ihrer Elemente und damit eine finite (endliche) Zahl. Für die Mächtigkeit unendlich großer Mengen wählte Cantor den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets ℵ (Aleph). Mit der transfiniten Kardinalzahl ℵ0 (Aleph Null) wird die kleinste Mächtigkeit unendlicher Mengen bezeichnet. Z.B. hat die „Menge aller natürlichen Zahlen“ die Mächtigkeit ℵ0 und ist damit die kleinstmögliche unendliche Menge. Wie Cantor zeigen konnte haben aber auch die „Menge aller geraden Zahlen“, die „Menge aller Primzahlen“ oder die „Menge aller rationalen Zahlen“ dieselbe Mächtigkeit ℵ0 und besitzen damit genau so viele Elemente wie die natürlichen Zahlen selbst. Zu einer mächtigeren Unendlichkeit als die der natürlichen Zahlen gelangt man erst beim Übergang zu den reellen Zahlen. Diese bilden ein Kontinuum (die den reellen Zahlen zugeordneten Punkte füllen die Zahlengerade lückenlos) und haben die Mächtigkeit ℵ1 (Aleph Eins). Sowohl die Menge der natürlichen als auch die Menge der reellen Zahlen sind unendlich, und doch sind die reellen Zahlen durch die natürlichen Zahlen nicht mehr „abzählbar“, sie sind „überabzählbar“ wie man sagt, und stellen eine größere Unendlichkeit dar als die der natürlichen Zahlen. Cantor bewies zudem, dass sich mit Hilfe der Bildung von Potenzmengen (die Menge aller möglichen Teilmengen einer Menge) eine Stufenleiter stets mächtigerer Unendlichkeiten konstruieren lässt, mit den immer größer werdenden transfiniten Kardinalzahlen ℵ2, ℵ3, ℵ4 … ohne Ende. Die mächtigste Unendlichkeit in der Mathematik ist das „Absolut Unendliche“.

Cantors Theorie wurde anfangs nur von wenigen akzeptiert, von diesen aber mit umso größerer Bewunderung: „Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen hat, soll uns niemand vertreiben können“ (David Hilbert, einer der bedeutendsten Mathematiker). Seit Cantors Tod wuchs die Zahl seiner Anhänger jedoch stetig, und bis heute haben Mathematiker zahlreiche neue Unendlichkeiten konstruiert. Es gibt unerreichbare Kardinalzahlen, superkompakte Kardinalzahlen, …

Ein Problem machte Cantor bis zu seinem Lebensende zu schaffen, die Frage, ob es unendliche Mengen zwischen ℵ0 und ℵ1 gibt. Er vermutete nein, konnte aber diese so genannte Kontinuumshypothese nie beweisen. Dass diese Frage weder mit nein noch mit ja zu beantworten ist, stellte sich erst Jahre später heraus, als Kurt Gödel (1906-1978, österreichischer Mathematiker) mit seinem berühmten Unvollständigkeitssatz bewies, dass es in der Mathematik immer Aussagen gibt, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen. Und Cantors Kontinuums­hypothese war eine solche Aussage.

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Fraktale, Bilder des Unendlichen

Schließlich sei noch zu erwähnen, dass Cantor mit der so genannten Punktmenge die Grundlagen für die Theorie der Fraktale schuf. Die Cantorsche Punktmenge (auch Cantor-Staub genannt) folgt dem Prinzip der unendlichen Wiederholung selbstähnlicher Prozesse. Die Cantor-Menge gilt als das älteste Fraktal.
 

Jenseits von Raum und Zeit

Wie sieht es nun mit der Unendlichkeit des Raumes aus? Die Mehrzahl der heutigen Kosmologen geht davon aus, dass der Weltraum unendlich ist. Der unendliche Weltraum ist ein Beispiel für eine potentielle Unendlichkeit im Großen. Mit einem Raumschiff könnte man immer noch ein Stück weiter fliegen, ohne jemals an ein Ende zu gelangen, ähnlich wie bei den Zahlen, bei denen es immer noch eine größere Zahl gibt. Fraktale hingegen sind Beispiele für die potentielle Unendlichkeit im Kleinen. Zoomt man in immer kleinere Bereiche des Fraktals hinein, so tauchen ständig neue (selbstähnliche) Bilder auf …, ohne jemals an ein Ende zu gelangen. Ob auch die Materie in immer kleinere Bausteine zerlegt werden kann, ohne ein Ende zu erreichen, ist eine offene Frage. Diese Beispiele zeigen, dass es zumindest das potentiell Unendliche in der Natur zu geben scheint.

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Emblem: „Oculus non vidit, nec auris audivit“ (Was das Auge nicht gesehen, noch das Ohr gehört hat)

Die Philosophie hat zudem immer auch die Existenz eines aktual Unendlichen angenommen, das sich aber weder beweisen noch widerlegen lässt. Seit Anaxagora (499-428 v. Chr., griechischer Philosoph) wird es als Nous bezeichnet, ein kosmisches Prinzip, das auch mit Geist oder Weltvernunft übersetzt wird. Das potentiell unendliche Weltall ist bei Plotin (205-269/70, griechischer Philosoph) eine Emanation (Ausströmung) und bei Nikolaus von Kues (1401–1464, deutscher Philosoph, Theologe und Mathematiker) eine Entfaltung des aktual unendlichen Nous. Nous und Welt stehen seit Platon (427-347 v. Chr., griechischer Philosoph) im Verhältnis von Urbild und Abbild. Ist der Nous bei Platon, Plotin und Nikolaus von Kues noch ein transzendentes (von lat. transcendere übersteigen) geistiges Prinzip, so wird er bei Baruch de Spinoza (1632-1677, niederländischer Philosoph) als „unendliche Substanz“ zu einem immanenten (von lat. immanere darin bleiben, anhaften), d.h. innerhalb der Natur liegenden Prinzip. Spinoza gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des Pantheismus (das Göttliche in allen Erscheinungen der Welt zu sehen). Der Pantheismus ist keine Religion, sondern eine Weltanschauung, da er keine Religionsstifter, heiligen Schriften, Dogmen oder Rituale kennt. Zu dieser Weltanschauung bekannte sich auch Albert Einstein (1879-1955, deutscher Physiker).
 

Unendliche Welten

Als Verkünder eines neuen Kosmos, mit seinem unendlichen Raum, unzähligen Sonnen und Planeten, gilt Giordano Bruno (1548-1600, italienischer Dichter und Philosoph). Das neue Weltbild wurde aber nicht von jedem als eine Befreiung vom engen und dogmatischen Kosmos des Mittelalters gefeiert. Das lag zum größten Teil daran, dass mit der immer stärker werdenden Wissenschaft das geistige Fundament langsam aus dem neuen Kosmos verschwand. Das aktual Unendliche (Gott, Nous) wurde als Hypothese nicht mehr benötigt und das Universum verwandelte sich zunehmend in eine seelenlose Maschine, worin der Mensch als ein winziges, unbedeutendes Staubkorn beinahe zu verschwinden drohte. Dazu einige Stimmen:

Blaise Pascal (1623-1662, französischer Mathematiker, Physiker, Literat und Philosoph) schrieb im Fragment 206 der Pensées:

„Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.“

Jean Pauls (1763-1825, deutscher Schriftsteller) „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ (aus dem Siebenkäs) gilt als die Urszene des europäischen Nihilismus:

„Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!“

Friedrich Nietzsche (1844-1900, deutscher Philosoph, Dichter und klassischer Philologe) schrieb in Die Fröhliche Wissenschaft im Aphorismus 125 mit dem Titel „Der tolle Mensch“:

„Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? […] Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!“

Sigmund Freuds (1856-1939, Begründer der Psychoanalyse) „Drei große Kränkungen der Menschheit“, welche sie im Laufe der Zeit von der Wissen­schaft erdulden musste:

1. Kränkung: Die Erde ist nicht mehr der Mittelpunkt des Universums, sondern nur noch ein winzi­ges Staubkorn in den Tiefen des Alls.

2. Kränkung: Durch Charles Darwin (1809-1882, britischer Naturforscher) wird die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich bewiesen, und er verliert seine Sonderrolle in der Schöpfung.

3. Kränkung: Diese wird von Freuds Psychoanalyse selbst hervorgerufen. Das menschliche Ich wird in weiten Teilen von seinen verdrängten Trieben, dem Unbewussten, beherrscht.

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Geburtsstätte neuer Sonnen und Planeten im Adlernebel M16 (Hubble-Weltraumteleskop). Hätten Blaise Pascal, Jean Paul, Friedrich Nietzsche oder Sigmund Freud solche Bilder schon gekannt, dann wäre ihre Sicht über die Unendlichkeit des Weltalls vielleicht positiver ausgefallen.


Zur Fortsetzung:   Unendlichkeit 2   〉〉〉